Wir setzen die Veröffentlichung des Buches von Thierry Meyssan Vor unseren Augen fort. In dieser Episode legt er die Veränderungen des amerikanischen Imperiums durch den 11. September dar: die Schaffung eines Systems der inneren Überwachung der Zivilbevölkerung und, im Ausland, den Beginn des endlosen Krieges im erweiterten Nahen Osten. Er kommt auch auf den posthumen Einfluss des Philosophen Leo Strauss über die Aufhebung der Skrupel zurück, die die amerikanischen und israelischen Führer hätten haben können, um ein solches Programm umzusetzen.
Dieser Artikel ist ein Auszug aus dem Buch Sous nos yeux.
Siehe hier die Inhaltsangabe.
Washingtons Strategie
Kommen wir auf unseren Bericht zurück. 2001 hatte Washington sich schließlich irreführen und von einer bevorstehenden Knappheit der Energiequellen überzeugen lassen. Die Arbeitsgruppe für die Nationale Entwicklung der Energiepolitik (NEPD) unter Vorsitz von Dick Cheney hatte alle privaten und öffentlichen Verantwortlichen für die Beschaffung von Kohlenwasserstoffen angehört. Als ich damals dem Generalsekretär dieser Körperschaft begegnete, die von der Washington Post als „Geheimgesellschaft“ [1] bezeichnet wurde, war ich von ihrer Entschlossenheit und von ihren Plänen zur Bekämpfung der Knappheit beeindruckt. So dass ich, da ich mich in dieser Frage nicht auskenne, eine Zeit an dieser malthusianischen Sichtweise festhielt.
Jedenfalls kam Washington zu dem Schluss, dass es schnellstmöglich alle bekannten Öl- und Gaslagerstätten in seine Macht bringen müsste, um das weitere Funktionieren seiner Wirtschaft abzusichern. Diese Politik wird aufgegeben werden, wenn die US-Elite die Möglichkeit entdeckt, andere Arten von Öl zu fördern als das saudische crude oil, das texanische Öl oder das der Nordsee. Durch die Übernahme der Kontrolle über Pemex [2], werden die Vereinigten Staaten dann die Vorkommen im Golf von Mexiko erobern und ihre energiewirtschaftliche Unabhängigkeit erklären, wobei sie ihre Untat hinter der Förderung von Schieferöl und -gas verbergen. Im Gegensatz zu Dick Cheneys Vorhersage ist das Ölangebot heute so umfangreich wie nie zuvor und bleibt preiswert.
Um den „erweiterten Nahen Osten“ zu beherrschen, fordert das Pentagon, völlig freie Hand zu haben und sein strategisches Ziel von den Wünschen der Ölgesellschaften abzukoppeln. Auf der Grundlage von britischen und israelischen Arbeiten plant es, die Region umzuformen, d.h. die von den europäischen Imperien geerbten Grenzen völlig zu verändern, die großen Staaten, die ihm Widerstand leisten könnten, zu beseitigen und kleine, ethnisch homogene Staaten zu schaffen. Abgesehen davon, dass dies ein Projekt zur Beherrschung ist, geht der Plan mit der Region als Ganzes um, ohne den lokalen Besonderheiten Rechnung zu tragen. Wenn die Bevölkerungsgruppen manchmal auch geographisch getrennt sind, so sind sie doch eng miteinander verwoben. Das macht ihre Trennung illusorisch, es sei denn, man griffe zu ausgedehnten Massakern.
Tatsächlich weiß das Team, das die Anschläge vom 11. September organisiert hat – zu dem auch Dick Cheney gehört – all das und hat lange vorher darüber nachgedacht. Deshalb wendet sie eine umfassende Reform der Armeen nach dem Vorbild von Admiral Arthur Cebrowski an. Dieser Mann hat bereits die US-Militärpraktiken gemäß den Erfordernissen der neuen IT-Tools [3] geändert. Er hat auch eine Strategie entwickelt, um Staaten als politische Organisationen zu zerstören und es den großen IT-Unternehmen zu ermöglichen, die globalisierte Welt an ihrer Stelle zu führen [4]. Schon am Tag nach dem 11. September stellt das Magazin des Heeres, Parameters [5], das Projekt zur Umgestaltung des "Erweiterten Mittleren Ostens" vor und betont, dass es besonders blutig und grausam sein wird. Es weist darauf hin, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit durchgeführt werden müssen, die an Dritte ausgelagert werden können. Dann gibt Verteidigungsminister Donald Rumsfeld Admiral Cebrowski ein Büro im Pentagon, um das alles zu überwachen.
Der 11. September ist also nicht nur ein Mittel, um in aller Eile einen Anti-Terror-Kodex, den USA Patriot Act, der mindestens zwei Jahre im Voraus verfasst wurde, zu verabschieden, sondern auch eine umfassende Reform der Institutionen durchzuführen: die Einrichtung des Ministeriums für Die Verteidigung des Vaterlandes (Department of Homeland Security, das oft in unangemessener Weise als Department der Inneren Sicherheit übersetzt wurde) und die Einrichtung der Geheimen Spezialkräfte (innerhalb der Streitkräfte).
Das Ministerium für Sicherheit des Vaterlandes ist nicht nur für verschiedene Agenturen wie die Küstenwache oder die Einwanderungsbehörde zuständig. Es ist auch ein umfangreiches Kontrollsystem der US-Bevölkerung, da es vollzeitlich 112.000 innere Spione beschäftigt [6]. Die Untergrund-Spezialeinheiten sind eine Armee von 60.000 hoch ausgebildeten Männern, die ohne Uniform unter Missachtung der Genfer Konventionen agieren [7]. Sie können morden, wen das Pentagon auswählt, überall auf der Welt. Und das Pentagon wird sich nicht zurückhalten, diese Investition unter größter Geheimhaltung zu amortisieren.
Die Kriege gegen Afghanistan und den Irak
Die Kampfeinsätze beginnen Mitte Juli 2001 mit dem Krieg gegen die Taliban, wobei nach dem Abbruch der Verhandlungen über den Bau einer Pipeline durch Afghanistan die Cheney-Doktrin angewendet wird. Der Botschafter Niaz Naik, der bei den Berliner Verhandlungen mit den Taliban Pakistan vertrat, war nach Islamabad zurückgekehrt in der Überzeugung, dass der Angriff der USA unvermeidbar sei [8]. Sein Land hatte begonnen, sich auf die Folgen einzustellen. Die britische Flotte war ins Meer von Oman entsandt worden, die Nato hatte 40.000 Mann nach Ägypten befördert und der tadschikische Führer Ahmad Schah Massoud war zwei Tage vor den Attentaten von New York und Washington ermordet worden.
Die Repräsentanten der Vereinigten Staaten und Großbritanniens in der UNO, John Negroponte und Sir Jeremy Greenstock, bekräftigen, dass Präsident George W. Bush und Premierminister Tony Blair das Recht auf Selbstverteidigung anwenden, wenn sie Afghanistan angreifen. Nun wissen aber alle Staatskanzleien, dass Washington und London diesen Krieg unabhängig von den Attentaten führen wollten. Bestenfalls beschließen sie, das Verbrechen, das nur Washington traf, [für ihre Zwecke] zu instrumentalisieren. Allerdings gelingt es mir, weltweit Zweifel daran zu wecken, was sich wirklich am 11. September ereignet hat. In Frankreich lässt Präsident Jacques Chirac meine Ausarbeitung durch die DGSE (Direction Générale de la Sécurité Extérieure: Französischer Auslandsnachrichtendienst) prüfen. Nach einer umfassenden Untersuchung stellt sie fest, dass alle Elemente, auf die ich mich stütze, der Wahrheit entsprechen, dass sie meine Schlussfolgerungen aber trotzdem nicht bestätigen kann.
Die Tageszeitung Le Monde, die eine Kampagne zu meiner Diskreditierung begonnen hat, verspottet meine Prognose, die Vereinigten Staaten würden den Irak angreifen [9]. Dennoch findet das Unvermeidbare statt. Washington beschuldigt Bagdad, al-Kaida-Mitgliedern Unterschlupf zu geben und Massenvernichtungswaffen vorzubereiten, um das „Land der Freiheit“ anzugreifen. Es wird also Krieg geben genau wie 1991.
Jeder steht nun vor einem Gewissenskonflikt. Wer vor dem Staatsstreich vom 11. September beständig die Augen verschließt, gesteht sich nicht zu, der offiziellen Darstellung der Vereinigten Staaten zu widersprechen, und ist daher gezwungen, das nachfolgende Verbrechen zu billigen: in diesem Fall den Einmarsch in den Irak. Ein einziger internationaler Spitzenbeamter, Hans Blix, beschließt, sich für die Wahrheit einzusetzen [10]. Dieser schwedische Diplomat ist der ehemalige Direktor der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO). Er hat den Vorsitz in der Überwachungs-, Verifikations- und Inspektionskommission der Vereinten Nationen, die mit der Beobachtung des Irak beauftragt ist. Er versichert, dass der Irak nicht die Einsatzmittel hat, die ihm vorgeworfen werden, und bietet damit Washington die Stirn. Sehr bald lastet ein beispielloser Druck auf seinen Schultern: Nicht nur die Vereinigten Staaten, sondern alle ihre Verbündeten üben Druck aus, damit er seine Kindereien aufgibt und die oberste Weltmacht den Irak zerstören lässt. Er gibt nicht auf, selbst nicht als sein Nachfolger in der IAEO, der Ägypter Mohammed el-Baradei, die Rolle des Vermittlers vortäuscht.
Am 5. Februar 2003 hält der Außenminister und ehemalige Vorsitzende des Vereinigten Generalstabs Colin Powell im Sicherheitsrat eine Rede, die von Cheneys Mannschaft verfasst worden ist. Er wirft dem Irak alle Übel vor, auch die Urheber der Anschläge vom 11. September zu schützen und Massenvernichtungswaffen für den Angriff auf die westlichen Staaten vorzubereiten. Beiläufig deckt er die Existenz eines neuen Gesichts bei al-Kaida auf: Abu Musab al-Zarqawi.
Aber auch Jacques Chirac weigert sich, bei dem Verbrechen mitzumachen. Er kann sich trotzdem nicht vorstellen, die Lügen Washingtons anzuprangern. Er schickt seinen Außenminister Dominique de Villepin in den Sicherheitsrat. Dieser lässt die Berichte der DGSE in Paris und konzentriert seine Rede auf den Unterschied zwischen einem aufgezwungenen und einem selbstgewählten Krieg. Es ist offensichtlich, dass der Angriff auf den Irak keinen Zusammenhang mit dem 11. September hat, sondern eine imperiale Entscheidung, eine Eroberung ist. Villepin wird dann die bereits durch Blix im Irak erzielten Ergebnisse unterstreichen. Ferner wird er die Anschuldigungen der USA herunterspielen, um deutlich zu machen, dass der Gebrauch von Gewalt in diesem Stadium nicht gerechtfertigt ist, und wird schlussfolgern, es gebe keinerlei Nachweis dafür, dass durch einen Krieg bessere Ergebnisse erzielt werden können als durch die Fortführung der Kontrollen. In dem Glauben, dass diese Rede Washington einen Ausweg bietet und der Krieg verhindert werden kann, wird sie vom Sicherheitsrat mit Beifall begrüßt. Dies ist das erste Mal, dass Diplomaten einem der ihren in diesem Saal applaudieren.
Washington und London werden nicht nur ihren Krieg durchsetzen, die Vereinigten Staaten werden auch Hans Blix übergehen und alle Arten von Unternehmungen starten, um Chirac „bezahlen“ zu lassen. Der französische Präsident wird bald in seiner Wachsamkeit nachlassen und seinem US-amerikanischen Lehnsherrn mehr als nötig zu Diensten sein.
Aus dieser Krise müssen wir die Lehren ziehen. Hans Blix hat wie sein Landsmann Raoul Wallenberg im Zweiten Weltkrieg die Vorstellung zurückgewiesen, dass die Vereinigten Staaten (oder die Deutschen) den anderen überlegen wären. Er hat den Versuch unternommen, Menschen zu retten, deren einziges Verbrechen es war, Iraker (oder ungarische Juden) zu sein. Jacques Chirac wäre gern wie sie gewesen, aber seine früheren Fehler und die verborgenen Seiten seines Privatlebens machen ihn erpressbar. Das lässt ihm nur die Wahl, zurückzutreten oder sich zu unterwerfen.
Washington hat vor, in Bagdad Exil-Iraker an die Macht zu bringen, die es in einer britischen Vereinigung, dem Irakischen Nationalkongress unter Vorsitz von Ahmad Schalabi ausgewählt hat. Dass dieser anderweitig nach seiner Verurteilung wegen des Bankrotts des jordanischen Bankhauses Petra als internationaler Betrüger gilt, wird außer Betracht gelassen. Der Flugzeugbauer Lockheed Martin gründet ein Komitee zur Befreiung des Irak [11], in dem der frühere Außenminister und Mentor von Bush jun., George Shultz, den Vorsitz übernimmt. Dieses Komitee und Schalabis Rat verkaufen diesen Krieg an die US-Öffentlichkeit. Sie versichern, dass er nicht lange dauern werde und die Vereinigten Staaten sich darauf beschränken werden, der irakischen Opposition Unterstützung zu leisten.
Wie der Angriff auf Afghanistan ist auch der auf den Irak vor den Anschlägen von New York und Washington vorbereitet worden. Vizepräsident Dick Cheney hatte persönlich Anfang 2001 den Aufbau von US-Militärstützpunkten in Kirgisistan, Kasachstan und Usbekistan im Rahmen der Entwicklung des Zentralasiatischen Bataillons (CENTRASBAT) der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft verhandelt. Die Planer hatten vorausberechnet, dass die Soldaten für diesen Krieg täglich 60.000 Tonnen Material brauchen würden; die Zentrale für Militärische Verkehrssteuerung (Military Traffic Management Command – MTMC) war beauftragt worden, im Voraus die Logistik dorthin zu befördern.
Das Training der Soldaten fand erst nach den Attentaten statt. Dies waren die wichtigsten Militärmanöver der Geschichte: „Jahrtausend-Herausforderung 2002“ (Millenium Challenge 2002). Diese Kriegsspiele vermischten echte Wehrübungen mit Simulationen im Raum des Generalstabs, die mithilfe der technologischen Mittel realisiert wurden, die in Hollywood für den Film Gladiator eingesetzt wurden. Vom 24. Juli bis 15. August wurden 13500 Mann mobilisiert. Die Inseln San Nicola und San Clemente vor der Küste Kaliforniens und die Wüste von Nevada waren evakuiert worden, um als Kriegsschauplatz zu dienen. Diese verschwenderische Fülle an Hilfsmitteln erforderte ein Budget von 235 Millionen Dollar. Nebenbei bemerkt wurden die Soldaten, die die irakischen Truppen simulierten, von General Paul Van Riper kommandiert; als sie eine unkonventionelle Strategie umsetzten, siegten sie mit Leichtigkeit über die US-amerikanischen Truppen, so dass der Generalstab die Übung vorzeitig beendete [12].
Washington berücksichtigt weder die Berichte von Hans Blix noch die französischen Einwände und startet am 19. März 2003 die „Operation irakische Befreiung“ (Operation Iraqi Liberation). In Anbetracht der Bedeutung, die versehentlich ihr englisches Akronym aufdeckt – OIL (Öl) –, wird sie umbenannt in „Operation irakische Freiheit“ (Operation Iraqi Freedom). Ein Feuersturm von beispielloser Stärke bricht über Bagdad herein, er bewirkt „Schrecken und Schauer“ (Shock and Awe). Während die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten das Land in ihre Gewalt bringen, sind die Bagdader wie betäubt.
Die Regierung wird zunächst durch eine Dienststelle des Pentagon, das ORHA (Office for Reconstruction and Humanitarian Assistance) übernommen, dann nach Ablauf eines Monats durch einen vom Verteidigungsminister ernannten Zivilverwalter: Lewis Paul Bremer III, der stellvertretende Leiter der Privatfirma von Henry Kissinger. Bald legt er sich den Titel des Administrators der Koalitions-Übergangsverwaltung zu. Aber im Gegensatz zu dem, was dieser Titel vermuten lässt, ist diese Behörde nicht durch die Koalition geschaffen worden, letztere hat sich nie versammelt und ihre Zusammensetzung ist nicht genau bekannt [13].
Zum ersten Mal erscheint ein Organ, das dem Pentagon untersteht, aber auf keinem Organigramm der Vereinigten Staaten aufgeführt ist. Es ist die Form, in der die Gruppe am 11. September 2001 in Erscheinung tritt. In den von Washington veröffentlichten Dokumenten wird diese Behörde als Organ der Koalition bezeichnet, wenn das Schriftstück Ausländern bestimmt ist, und als Organ der US-Regierung, wenn es dem Kongress bestimmt ist. Mit Ausnahme eines britischen Beamten werden alle Angestellten dieser Verwaltung von den US-amerikanischen Ämtern bezahlt, unterliegen aber nicht den US-Gesetzen. Entsprechend ungeniert verhalten sie sich in Bezug auf das Gesetz für das öffentliche Auftragswesen. Das Verwaltungsorgan beschlagnahmt die irakische Staatskasse, das heißt fünf Milliarden Dollar, aber nur eine Milliarde erscheint in seiner Buchführung. Wo sind die übrigen vier Milliarden geblieben? Diese Frage wird auf der Konferenz von Madrid für den Wiederaufbau gestellt. Eine Antwort darauf wird nie gegeben.
Der Stellvertreter von Paul Bremer ist niemand anders als Sir Jeremy Greenstock, der Repräsentant des Vereinigten Königreichs im Sicherheitsrat, der die Angriffe auf Afghanistan und den Irak gerechtfertigt hat. Während der Besetzung untersuchen die Vereinigten Staaten die Möglichkeiten zur Umgestaltung des Irak, in diesem Fall zur Teilung in drei Staaten, laut dem Plan des demokratischen Senators Joe Biden. Bremer schickt daher Botschafter Peter Galbraith – der die Teilung Jugoslawiens in sieben verschiedene Staaten organisiert hat – als Berater für die kurdische Regionalregierung.
Bremer arbeitet unmittelbar mit dem stellvertretenden Verteidigungsminister Paul Wolfowitz zusammen, der während der Auflösung der Sowjetunion die künftige US-Strategie festlegte. Er ist trotzkistischer Jude, der in der Denkweise von Leo Strauss geschult wurde. Er hat im Pentagon zahlreiche Anhänger des deutschen Philosophen untergebracht. Zusammen bilden sie eine sehr homogene und solidarische strukturierte Gruppe. Nach ihrer Ansicht lässt sich aus der Schwäche der Weimarer Republik gegenüber den Nazis die Lehre ziehen, dass die Juden nicht darauf vertrauen können, von den Demokratien vor einem erneuten Völkermord geschützt zu werden. Im Gegenteil, sie müssen für die autoritären Regimes Partei ergreifen und sich auf die Seite der Macht stellen. Folglich wird die Idee einer weltweiten Diktatur als Präventivmaßnahme für rechtmäßig erklärt [14].
Wolfowitz legt die Grundzüge für die Arbeit der Koalitions-Übergangsverwaltung fest, das heißt die Entbaathifizierung des Landes – also die Entlassung aller im öffentlichen Dienst stehenden Mitglieder der laizistischen Baath-Partei – und seine wirtschaftliche Plünderung. Auf seine Anweisung vergibt Bremer alle Regierungsaufträge an befreundete Firmen, gewöhnlich ohne Einholung von Angeboten. Grundsätzlich bleiben Franzosen und Deutsche davon ausgeschlossen, denn sie werden für schuldig befunden, sich gegen diesen imperialen Krieg gestellt zu haben [15]].
Sämtliche Mitglieder im „Projekt für das neue amerikanische Jahrhundert“, dem Thinktank, der den 11. September vorbereitet hat, sind direkt oder indirekt in die Koalitions-Übergangsverwaltung einbezogen oder arbeiten mit ihr zusammen.
Von Anfang an rufen diese Leute heftigen Widerstand hervor. Zunächst den des Vertreters des Uno-Generalsekretärs, des Brasilianers Sérgio Vieira de Mello. Er wird am 19. August 2003 ermordet, angeblich durch den Dschihadisten Abu Musab al-Zarqawi, den Powell in der UNO angeprangert hatte. Hingegen unterstreichen die Verwandten des Diplomaten seine Auseinandersetzung mit Wolfowitz und beschuldigen unmittelbar eine US-amerikanische Gruppierung. Dann macht sich General James Mattis, der Kommandant der 1. US-Marineinfanteriedivision, Sorgen um die katastrophalen Folgen der Entbaathifizierung. Er wird schließlich doch wieder von der Bühne abtreten.
Mitgerissen von ihren Erfolgen in den Vereinigten Staaten, in Afghanistan und im Irak richten die Männer des 11. September ihr Land auf neue Ziele aus.
Die Theopolitik
Vom 12. bis 14. Oktober 2003 findet eine eigenartige Veranstaltung im Hotel King David von Jerusalem statt. Laut Einladungskarte: „Israel ist die moralische Alternative für den Totalitarismus des Orients und den moralischen Relativismus des Westens. Israel ist der ’Ground Zero’ der zentralen Schlacht unserer Zivilisation ums Überleben. Israel kann gerettet werden und mit ihm der Rest des Westens. Es ist an der Zeit, uns in Jerusalem zu vereinen.“
Einige hundert Personen der israelischen und US-amerikanischen extremen Rechten werden auf Kosten der russischen Mafia empfangen. Avigdor Lieberman, Benjamin Netanjahu und Ehud Olmert bejubeln Elliot Abrams, Richard Perle und Daniel Pipes.
Alle teilen denselben Glauben: die Theopolitik. Ihnen zufolge ist das „Ende der Zeiten“ nahe. Bald wird die Welt durch eine jüdische Institution mit Hauptquartier in Jerusalem regiert werden [16].
Diese Veranstaltung beunruhigt die fortschrittlichen Israelis umso mehr, als einige Redner Bagdad, das sechs Monate zuvor erobert wurde, als das antike „Babylon“ bezeichnen. Für sie ist klar ersichtlich, dass die Theopolitik, auf die sich dieser Kongress beruft, ein Wiederaufleben des Talmudismus bedeutet. Diese Denkrichtung – für die Leo Strauss Spezialist war – interpretiert den Judaismus als tausendjähriges Gebet des jüdischen Volkes, die Verbrechen der Ägypter gegen seine Vorfahren, ihre Deportation durch die Assyrer nach Babylon und selbst die Vernichtung der europäischen Juden durch die Nazis zu vergelten. Diese Schule ist der Ansicht, dass die „Wolfowitz-Doktrin“ das Armageddon, die Endschlacht vorbereitet, die das Chaos erst im erweiterten Nahen Osten, dann in Europa einführen wird – eine allgemeine Zerstörung als göttliche Bestrafung derer, die dem jüdischen Volk Leid zugefügt haben.
Der ehemalige Ministerpräsident Ehud Barak begreift, dass er einen Fehler begangen hat, als er den von ihm selbst mit den Präsidenten Bill Clinton und Hafiz al-Assad verhandelten Frieden ablehnte – einen Frieden, der die Interessen aller Völker der Region gewahrt hätte und den die Theopolitiker nicht wollten. Er beginnt, die Offiziere, die im November 2014 erfolglos versuchen werden, die Wiederwahl von Benjamin Netanjahu zu verhindern, innnerhalb der Commanders for Israel’s Security (Höhere Offiziere für die Sicherheit Israels) zu versammeln. Er wird seinen Kampf bis zu seiner Rede auf der Herzlia-Konferenz im Juni 2016 fortsetzen, in der er Netanjahus fatale Politik und seine Absicht, die Apartheid einzuführen, anprangert. Er ruft seine Mitbürger auf, ihr Land durch die Blockade dieser Fanatiker zu retten.
(Fortsetzung folgt)
Dieses Buch ist in gedruckter Form in Englisch, Französisch, Italienisch, Russisch und Spanisch erhältlich. Es ist auch elektronisch in türkischer Sprache verfügbar.
[1] Energy Task Force Works in Secret, Dana Milbank & Eric Pianin, The Washington Post, Avril 16, 2001.
[2] Muerte de Pemex y suicidio de México (2014), Alfredo Jalife-Rahme, Orfila (Mexico).
[3] Transforming Military Force: The Legacy of Arthur Cebrowski and Network Centric Warfare, James R. Blaker, Praeger (2007).
[4] The Pentagon’s New Map, Thomas P.M. Barnett, Putnam (2004). Im Gegensatz zu dem, was dieses Buch vermuten lässt, war Barnett Cebrowskis Assistent im Pentagon.
[5] “Stabiliy American’s Ennemy”, col. Ralph Peters, Parameters #31-4 (winter 2001).
[6] Top Secret America: The Rise of the New American Security State, William M. Arkin & Dana Priest, Back Bay Books (2012).
[7] “Exclusive : Inside the Military’s Secret Undercover Army”, William M. Arkin, Newsweek, May 17, 2021.
[8] Interview de Naiz Naik par Benoît Califano, Pierre Trouillet et Guilhem Rondot, Dokumenta-ITV (2001). Non diffusé.
[9] «Le Net et la rumeur», Editorial, Le Monde, 20 mars 2002.
[10] Disarming Iraq, Hans Blix, Knopf Doubleday (2013).
[11] « Une guerre juteuse pour Lockheed Martin », Réseau Voltaire, 7 février 2003.[Ein saftiger Krieg für Lockheed Martin. Wenn dies auch nicht das erste Mal ist, dass Rüstungsindustrien für den Krieg werben, so ist doch die Lobbyarbeit von Lockheed Martin für den Angriff auf den Irak von beispiellosem Ausmaß. Seit 1993 arbeitet der Hersteller von Massenvernichtungswaffen an der Entwicklung der NATO, deren neue Mitglieder neue Kunden sind. Sein finanzieller und ideologischer Einfluss innerhalb der Republikanischen Partei und seine engen Verbindungen zu den "Falken" in Washington machen ihn zu einem der Hauptanstifter des Angriffs auf den Irak. Es ist Zeit, in Lockheed-Martin-Aktien zu investieren.].
[12] « Apocalypse Tomorrow », Réseau Voltaire, 26 septembre 2002.
[13] « Qui gouverne l’Irak ? », par Thierry Meyssan, Réseau Voltaire, 13 mai 2004. [Wer regiert den Irak. Im Gegensatz zu dem, was sein Titel vermuten lassen könnte, ist die provisorische Behörde der Koalition im Irak kein Organ der Koalition, nicht einmal eine Agentur der USA. Die Streitigkeiten über die Ausschreibung für den Wiederaufbau zeigen, dass die Behörde keine Institution öffentlichen Rechtes ist, sondern ein privatwirtschaftliches Unternehmen. George W. Bush hat den Irak privatisiert, wie Leopold II. von Belgien es mit dem Kongo tat, enthüllt Thierry Meyssan in einer Rede vor der Konferenz zur Unterstützung des irakischen Widerstands (Paris, 15. Mai 2004).].
[14] Es ist unerlässlich, die Zeugnisse der Schüler von Leo Strauss zu lesen, um den Unterschied zwischen seinem öffentlichen Unterricht und dem, der seinen auserwählten Schülern vorbehalten ist, zu verstehen. Political Ideas of Leo Strauss, Shadia B. Drury, Palgrave Macmillan (1988). Children of Satan : the ’ignoble liars’ behind Bush’s no-exit war, Lyndon H. LaRouche, EIR (2004). Leo Strauss and the Politics of American Empire, Anne Norton, Yale University Press (2005). Leo Strauss and the conservative movement in America : a critical appraisal, Paul Edward Gottfried, Cambridge University Press (2011). Leo Strauss, The Straussians, and the Study of the American Regime, Kenneth L. Deutsch, Rowman & Littlefield (2013). Leo Strauss and the Invasion of Iraq: Encountering the Abyss, Aggie Hirst, Routledge (2013). Straussophobia : Defending Leo Strauss and Straussians Against Shadia Drury and Other Accusers, Peter Minowitz, Lexington Books (2016).
[15] Anweisungen und Schlussfolgerungen über den Wiederaufbau- und Hilfe- Markt im Irak. (Beigefügte Original-Dokumente auf Englisch).
[16] « Sommet historique pour sceller l’Alliance des guerriers de Dieu », Réseau Voltaire, 17 octobre 2003.
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