In einem offenen Brief, den die deutsche Zeitung «Handelsblatt» am 13. Januar, also rund zwei Wochen vor den Parlamentswahlen, in ihrer gedruckten Ausgabe veröffentlichte, wandte sich der Parteivorsitzende von Syriza und jetzige Ministerpräsident Griechenlands, Alexis Tsipras, an die deutsche Öffentlichkeit. Der folgende Text ist der Internetseite www.griechenland.blog entnommen, die den Brief Tsipras’ aus dem griechischen Original erneut übersetzt hat und die hier – sprachlich leicht korrigiert – wiedergegeben wird.
Liebe Leser
[…], mir ist vorab bekannt, dass sich die meisten von Ihnen bereits eine Meinung darüber gebildet haben, was Sie in diesem Artikel lesen werden. Ich rufe Sie jedoch auf, ihn unvoreingenommen zu lesen. Vorurteile waren nie ein guter Berater, zumal in einer Periode, in der die wirtschaftliche Krise sie verstärkt und diese Vorurteile Intoleranz, Nationalismus, Obskurantismus und Gewalt schüren.
Mit meinem heutigen offenen Brief möchte ich Ihnen eine Schilderung geben, die sich von all dem unterscheidet, was sie über die Geschehnisse in Griechenland seit 2010 wissen. Und hauptsächlich möchte ich ehrlich darlegen, was die Partei Syriza vorschlägt und anstrebt, wenn sie am 26. Januar die gewählte Regierung der Griechen stellen wird.
2010 vermochte der griechische Staat seine Schulden nicht mehr zu bedienen. Leider beschloss das offizielle Europa vorzutäuschen, dieses Problem könne mit dem grössten Kredit in der Geschichte der Menschheit unter der Bedingung haushaltspolitischer Massnahmen überwunden werden, die mit mathematischer Genauigkeit dazu führten, dass das Volkseinkommen, aus dem sowohl die neuen als auch die älteren Kredite zu tilgen gewesen wären, schrumpfen würde. Einem Konkursproblem wurde begegnet, als sei es ein Liquiditätsproblem.
Mit anderen Worten, es wurde die Mentalität des schlechten Bankiers übernommen, der nicht zugibt, dass der von ihm an eine Pleite-Firma vergebene Kredit geplatzt ist, sondern ihr noch mehr Geld leiht und so tut, als ob die alten Kredite weiterhin bedient würden, und so den Bankrott auf ewig hinauszögert.
Es hätte nicht mehr als des gesunden Menschenverstandes bedurft, um zu sehen, dass die Umsetzung des Dogmas «Extend and pretend» (verlängern und täuschen) im Fall meines Landes in einer Tragödie enden würde. Dass dies an Stelle der Stabilisierung Griechenlands eine selbstgespeiste Krise aufbauen würde, die die Fundamente eines vereinten Europas untergräbt.
Unsere Partei und ich persönlich waren mit der Kreditvereinbarung vom Mai 2010 nicht einverstanden, und zwar nicht, weil uns Deutschland und unsere übrigen Partner nicht genug Geld gaben, sondern weil sie uns sehr viel mehr Geld gaben, als sie hätten tun sollen und wir anzunehmen berechtigt waren. Gelder, die dem griechischen Volk nicht helfen würden, weil sie im schwarzen Loch der Verschuldung verschwanden und auch nicht die stetige Aufblähung der öffentlichen Verschuldung stoppen würden, die unsere Partner unter grossen Kosten für ihre Bürger auf ewig zu verlängern gezwungen gewesen wären.
Und diese Wahrheit war den deutschen Regierungen gut bekannt, und sie haben sie Ihnen niemals enthüllt.
Tatsächlich verstrich nicht einmal ein Jahr, und unsere Prophezeiungen bestätigten sich ab 2011. Die Kombination riesiger neuer Kredite und harter Kürzungen scheiterte nicht nur dabei, die Verschuldung zu zähmen, sondern bestrafte meine schwächsten Mitbürger, indem sie bescheidene Menschen mit Arbeitsplätzen und Wohnungen zu obdachlosen Arbeitslosen machte, die vor allem ihre Würde verloren. Der Zusammenbruch der Einkommen trieb Tausende Unternehmen in den Bankrott und erhöhte damit die oligopolartige Macht der überlebenden Firmen. Die Preise sanken weniger als die Einkommen, und die – privaten und öffentlichen – Schulden stiegen. In dieser Szenerie, wo der Mangel an Hoffnung grösser war als alle übrigen Defizite, verstrich nicht viel Zeit, bis das «Schlangenei» schlüpfte – die Neonazis, die in den Wohngegenden zu patrouillieren begannen und den Hass säten.
Trotz ihres offensichtlichen Scheiterns wird die Logik des «Extend and pretend» auch heute noch systematisch umgesetzt. Die zweite Kreditvereinbarung, die des Jahres 2012, lud einen weiteren riesigen Schuldenbetrag auf die mageren Schultern des griechischen Staates, «beschnitt» die Versicherungskassen, gab der Rezession neue Nahrung und finanziert mit Krediten unserer Partner eine neue Kleptokratie.
Ernsthafte Kommentatoren sprachen in letzter Zeit von einer Stabilisierung, sogar auch von einem Aufschwung meines Landes und «bewiesen» so, dass die umgesetzten Politiken nun endlich fruchten würden. Keine ernsthafte Analyse unterstützt diese eingebildete «Realität». Der jüngste Anstieg des realen Volkseinkommens um 0,7 % signalisiert nicht das Ende der Rezession, sondern ihre Fortsetzung, da dieser Anstieg in einer Periode mit einer Inflation von 1,8 % erzielt wurde, was bedeutet, dass – in Euro – das Volkseinkommen weiter sank, während die Schulden steigen. Dieser Versuch der Mobilisierung der «Greek statistics», damit es so scheint, als würde die Politik der Troika in Griechenland fruchten, ist für alle europäischen Partner, die ein Recht darauf haben, endlich die Wahrheit zu erfahren, beleidigend.
Und die Wahrheit ist, dass die öffentliche Verschuldung Griechenlands nicht bedient werden kann, solange die griechische Wirtschaft unter einem Regime des andauernden haushaltspolitischen Ertränkens («fiscal waterboarding») steht. Das hartnäckige Beharren auf dieser ausweglosen, misanthropischen Politik, die Verweigerung der simplen Arithmetik, kostet den deutschen Steuerzahler viel und verurteilt gleichzeitig ein stolzes Volk zur Würdelosigkeit. Und das Schlimmste: Auf diese Weise richten sich die Griechen gegen die Deutschen, die Deutschen gegen die Griechen, und die Idee eines demokratisch vereinten Europas wird brutal in Mitleidenschaft gezogen.
Deutschland und speziell der hart arbeitende deutsche Steuerzahler haben von einer Syriza-Regierung nichts zu befürchten. Im Gegenteil, unser Ziel ist nicht die Konfrontation mit unseren Partnern. Unser Ziel sind nicht mehr Kredite oder das Recht auf neue Haushaltsdefizite. Unser Ziel sind die Stabilisierung, die primär ausgeglichenen Haushalte und – natürlich –, dass der Aderlass der Steuerzahler aufhört, den eine nicht umsetzbare Kreditvereinbarung sowohl in Griechenland als auch in Deutschland nun schon vier Jahre lang verursacht. Wir werden die Beendigung des Dogmas «Extend and pretend» fordern, nicht gegen die deutschen Bürger, sondern zu unser aller Nutzen.
Ich weiss, liebe Leser, dass sich hinter den Forderungen nach einer «getreuen Umsetzung der Vereinbarungen» die Sorge verbirgt: «Wenn wir die Griechen machen lassen, was sie wollen, werden sie wieder dasselbe tun.» Ich verstehe diese Sorge. Es war jedoch nicht die Syriza, die in meinem Vaterland das Regime der Korruption und der Kleptokratie aufbaute, die sich nun angeblich um die Einhaltung der «Vereinbarungen» und um Reformen sorgt, weil sie diese natürlich überhaupt nicht berühren, so wie es in den letzten vier Jahren mit den Reformen der Troika und der Regierung Samaras geschah.
Wir sind bereit, mit diesem System zu kollidieren, damit wir einschneidende Reformen in der Funktion des Staates und in der öffentlichen Verwaltung, für Transparenz, das Leistungsprinzip, steuerliche Gerechtigkeit und die Bekämpfung des Schwarzgelds vorantreiben können. Diese Reformvorschläge werden wir bei den kommenden Wahlen dem Urteil unserer Bürger überlassen.
Unser Ziel ist – im Rahmen der Euro-Zone – eine neue Vereinbarung für die ganze Euro-Zone, innerhalb der auch unser Volk atmen, schaffen, in Würde leben kann. Mit einer gesellschaftlich tragbaren Verschuldung, mit einer Finanzierung des Wachstums; denn das ist der einzige Ausweg aus der Krise, im Gegensatz zu dem misslungenen Rezept der – die Rezession recycelnde – Austerität. Mit Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Mit mehr Solidarität und Demokratie.
Am 25. Januar wird in Griechenland eine Chance für Europa geboren. Lassen wir diese nicht verlorengehen.
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