Mit der Sowjetunion zerfiel 1991 ein Vielvölkerstaat, in welchem etwa 100 Ethnien lebten. Die politischen Eliten in den Nachfolgestaaten sahen sich danach mit dem Problem konfrontiert, eine eigenständige nationale Identität zu schaffen, um sich langfristig gegen eine Reintegration in ein Nachfolgereich abzusichern. Aus ideologischen Gründen hatte die Führung der Sowjetunion der Nationalitätenfrage nie grosse Beachtung geschenkt. Die Beziehungen zwischen den sowjetischen Teilrepubliken waren in jeder Hinsicht eng, und besonders Russen, Weissrussen und Ukrainer spielten eine wichtige Rolle in vielen kleineren Teilrepubliken. Viele territoriale Fragen blieben ungelöst. Das war die schwierige Ausgangslage zu Ende des Jahres 1991, als die Sowjetunion zu existieren aufhörte.

Der Umgang mit dem Nationalitätenproblem gelang nicht überall gleich gut. Während sich Russland und Kasachstan mit ihren mehr als 100 beziehungsweise 50 Ethnien als Vielvölkerstaaten verstehen, begannen andere ehemalige Teilrepubliken, sich scharf abzugrenzen.

«Und auch westliche Staaten dulden dieses Treiben nicht nur, sie fördern es sogar: Neonazis aus der Ukraine wurden in Militär-Camps im Baltikum, in Polen und Georgien militärisch ausgebildet. US-amerikanische, kanadische und britische Instruktoren bildeten diese Freiwilligen im sogenannten Ausbildungszentrum für Peacekeeping Operationen in der Nähe von Lviv (Lemberg) aus. Gerne wendet man das Universalargument des Neonazismus gegen politische Gegner im eigenen Land an. Wenn aber ukrainische und andere Nazis gegen die russischen Bewohner des Donbass und gegen Russland generell kämpfen, ist man in Washington, Brüssel und Berlin gerne bereit, ein Auge zuzudrücken.»

Entwicklung in den baltischen Republiken

Besonders einfach war das für die baltischen Republiken, die in sprachlicher, religiöser und kultureller Hinsicht wenig Gemeinsamkeiten mit Russland hatten. Basis ihres Nationalverständnisses war und ist ihre Sprache. Insbesondere Estland und Lettland begannen aber rasch, ihre russischsprachige Minderheit systematisch zu benachteiligen. Diese Minderheit macht heute in beiden Ländern etwa einen Viertel der Bevölkerung aus. Das Problem nahm derartige Ausmasse an, dass die OSZE sich gezwungen sah, einen Sonderbeauftragten einzusetzen. Kritik vom Hohen Kommissar für nationale Minderheiten (HCNM) müssten diese Staaten aber nie befürchten: Diplomaten aus EU- und Nato- Ländern dürften wohl dafür gesorgt haben, dass der HCNM nicht allzu aktiv wurde. In jüngster Zeit wurden in den baltischen Republiken Veteranenverbände von ehemaligen Angehörigen der SS vermehrt aktiv, treten in der Öffentlichkeit in Uniform auf, veranstalten Ehrenmärsche, errichten Denkmäler und freuen sich über das hohe Ansehen, das sie in diesen Ländern geniessen. Neu erhalten sie staatliche Renten. Und die jüngere Generation wird in diese Tradition voll eingebunden. Die offiziellen Vertreter dieser Länder bekunden zuweilen Mühe, sich von diesem Treiben zu distanzieren.

Zentralasiatische Republiken

Auch den Republiken Zentralasiens gelang die Abgrenzung auf der Basis sprachlicher, religiöser und kultureller Eigenheiten gut. Mit der russischen Minderheit und der russischen Sprache kamen sie aber gut zurecht. In Zentralasien spielen eher ungelöste territoriale Fragen und der Einfluss radikaler Islamisten – namentlich aus der Golf-Region – eine destabilisierende Rolle.

Südkaukasus

Eine völlig andere Lage präsentiert sich im Südkaukasus: Sowohl in Georgien als auch in Armenien und in Aserbaidschan sind die politischen Eliten der Auffassung, dass nur ein Mensch, der die Staatssprache spricht, Staatsbürger sein könne. Insbesondere Georgien bekundete unter der Führung von Zviad Gamsakhurdia Probleme im Umgang mit nationalen Minderheiten. In der Region Djavacheti, wo überwiegend Armenier leben, reift ein neues Minderheitenproblem heran, denn diese Menschen dürfen keine armenischen Sprachschulen betreiben und müssen in ihren Kirchen Gottesdienste nach dem Ritus der georgisch-orthodoxen Kirche abhalten. Für die Armenier, deren Religion Teil ihres Selbstverständnisses als Nation darstellt, ist das nur schwer erträglich. In Armenien und Aserbaidschan kam es schon vor dem endgültigen Zerfall der Sowjetunion zu Konflikten und stellenweise zu Pogromen. Das erschwert die Suche nach einer Lösung des Konflikts in Nagornyi Karabach massiv.

Belarus

Auch die Republik Belarus stand vor dem Problem, sich vom grossen Nachbarn im Osten abzugrenzen. Aber Belarus ging dieses Problem mit viel Augenmass an, und nach den Ereignissen auf dem Maidan Nezalezhnosti in Kiew 2014 und danach ist wohl kaum mehr jemand der Auffassung, der ukrainische Weg sei nachahmenswert.

Am 8. Mai 2007 erstellten Nazi- und islamistische Gruppierungen in Ternopil (west-Ukraine), eine so genannte anti-imperialistische Front zum Kampf gegen Russland. Organisationen aus Litauen, Polen, Ukraine und Russland sind daran beteiligt, darunter auch die islamistischen Separatisten von der Krim, von Adygeja, von Dagestan, Inguschetien, Kabardino-Balkarien, Karatschai-Tscherkessien, Ossetien, Tschetschenien. Da Dokka Umarov wegen der internationalen Sanktionen nicht präsent sein kann, lässt er seinen Beitrag dort lesen. Die anti-imperialistische Front wird von Dmytro Jarosch geleitet, der während des Putsches von Kiew im Februar 2014 stellvertretender Sekretär des Rates der nationalen Sicherheit der Ukraine werden wird.

Ukraine

Die Ukraine in ihrer heutigen Gestalt ist ein Spaltprodukt der ehemaligen Sowjetunion. Ihr Staatsgebiet wurde nach dem Zweiten Weltkrieg nach politischen und militärischen Kriterien festgelegt. Seit ihrer Unabhängigkeit verfolgte die Ukraine eine Politik der Ukrainisierung, die auf dem Verständnis basierte, dass ein Nationalverständnis auf der ukrainischen Sprache beruhen müsse. Das gipfelte in einer Aussage des ehemaligen Präsidenten Viktor Juschtschenko, sein Ziel bestehe darin, den Gebrauch der russischen Sprache in der Ukraine innerhalb von zwei Generationen zum Verschwinden zu bringen. Die russische Bevölkerungsminderheit, die etwa einen Viertel der Bevölkerung ausmachte, wurde zum ersten Ziel der politischen Eliten in der Ukraine. Das betraf nicht nur die Krim und den Donbass, sondern auch die Städte an der Schwarzmeerküste, allen voran Odessa mit seinem Gemisch aus russischer, (krim)tatarischer, griechischer und jüdischer Bevölkerung. Es liess auch nichts Gutes erwarten für die rumänische, ungarische, slowakische und weissrussische Minderheit im Land, ebensowenig wie für die autochthonen Russinen in den Karpaten, die jedoch offiziell nicht als eigene Ethnie angesehen werden.

Einen ersten Versuch, die Ukraine von der Sowjetunion abzuspalten, unternahmen ukrainische Nationalisten unter der Führung von Stepan Bandera und Roman Schuchewitsch im Sommer 1941, nachdem das nationalsozialistische Deutschland die Sowjetunion überfallen hatte. Ukrainische Nationalisten machten den ganzen Krieg über gemeinsame Sache mit dem nationalsozialistischen Deutschland, stellten Wachmannschaften in KZs und beteiligten sich am brutalen Kampf gegen Partisanen in der Ukraine und in Weissrussland. Seither haben ukrainische Nationalisten immer Mühe gehabt, sich vom Nationalsozialismus zu distanzieren.

Neu zu Ehren kamen die Anhänger Banderas und Schuchewitschs mit dem Ausbruch des Konflikts im Donbass. Ihre Freiwilligen-Verbände seien wichtig gewesen für die Ukraine im Jahr 2014, hört man oft, und die Machthaber in Kiew lassen sie gewähren. Andererseits weisen ukrainische Offizielle immer wieder gerne darauf hin, dass die Nationalisten in Wahlen jeweils nur wenige Prozent der Wählerstimmen erringen können. Am 14. Oktober dieses Jahres versammelten sich etwa 10 000 Anhänger der nationalistischen Freiwilligenbataillone im Stadtzentrum von Kiew, um der Gründung der sogenannten ukrainischen Aufstandsarmee im Jahre 1942 zu gedenken. Wenn diese in der Lage sind, sich aus der hohen Anzahl illegal zirkulierender, unregistrierter Waffen aus den diversen Kriegen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und aus dem Zerfall der Sowjetarmee in den frühen neunziger Jahren zu bewaffnen, dann stellen sie eine Macht im Staat dar, die nicht zu ignorieren ist. Auch in den Nachbarstaaten der Ukraine macht man sich deswegen Sorgen. Und dieser Masse an gewaltbereiten Demonstranten stellte die ukrainische Polizei die läppische Anzahl von 200 Polizeibeamten entgegen. Das zeigt deutlich, dass Innenminister Arsen Awakow gerne bereit ist, diese Schläger gewähren zu lassen.

Dazu passt, dass gleichentags in Kiew ein Kongress ultrarechter Nationalisten aus ganz Europa und Nordamerika durchgeführt wurde, deren Stargast der notorisch bekannte Greg Johnson war, ein weisser Nationalist, der in den USA einen ethnisch reinen Staat aufbauen möchte, dessen Bürger nur weisser Hautfarbe sein können. Sein Staatsverständnis deckt sich mit dem vieler Nationalisten in der ehemaligen Sowjetunion.

Die Liste staatlich geduldeter Übergriffe gegen nationale Minderheiten in der Ukraine ist lang. Auch in Zukunft möchten die Machthaber in Kiew die Schlägerbanden nutzen, um ihrem Staatsverständnis zum Durchbruch zu verhelfen. Wenn die Ukraine in ihren heutigen Grenzen und ihrer heutigen Staatsform erhalten bleiben soll, dann wird die Regierung zu Zwangsmassnahmen, Kriegsrecht oder anderen Provokationen greifen müssen.
Und auch westliche Staaten dulden dieses Treiben nicht nur, sie fördern es sogar: Neonazis aus der Ukraine wurden in Militär-Camps im Baltikum, in Polen und Georgien militärisch ausgebildet. US-amerikanische, kanadische und britische Instruktoren bildeten diese Freiwilligen im sogenannten Ausbildungszentrum für Peacekeeping Operationen in der Nähe von Lviv (Lemberg) aus. Gerne wendet man das Universalargument des Neonazismus gegen politische Gegner im eigenen Land an. Wenn aber ukrainische und andere Nazis gegen die russischen Bewohner des Donbass und gegen Russland generell kämpfen, ist man in Washington, Brüssel und Berlin gerne bereit, ein Auge zuzudrücken.

Quelle
Zeit Fragen (Schweiz)