Sie kennen sein Gesicht nicht. Li Hui ist dennoch einer der wichtigsten chinesischen Diplomaten. Er war es, der dem Westen Frieden in der Ukraine vorschlug. Er wurde freundlich empfangen, aber niemand hörte ihm zu.

Letzte Woche habe ich daran erinnert, dass man nach internationalem Recht durch den Verkauf von Waffen für deren Verwendung verantwortlich wird [1]. Wenn der Westen also die Ukraine bewaffnet, muss er sicherstellen, dass die Ukraine sie nur zur Selbstverteidigung einsetzt und niemals russisches Territorium von 2014 angreift. Andernfalls wird der Westen unfreiwillig in einen Krieg gegen Moskau eintreten.

In der Tat ist der Westen immer darauf bedacht, nicht zur direkten Kriegspartei zu werden. So entfernte er zunächst bestimmte Waffensysteme aus den Flugzeugen, die er der Ukraine versprochen hatte, bevor er sie ihr lieferte. Daher hat sie nicht die Möglichkeit, Luft-Boden-Raketen aus der Ukraine auf entfernte Ziele innerhalb Russlands abzufeuern. Irgendwann könnten sich die Ukrainer jedoch wieder mit der notwendigen Ausrüstung versorgen und ihre Flugzeuge wieder damit ausrüsten.

Das kleine Spiel, das darin besteht die Ukraine zu bewaffnen, ohne ihr die Mittel zu geben, Moskau anzugreifen, wird nun von der chinesischen Diplomatie in Frage gestellt. Das Wall Street Journal berichtete über einige Aspekte dieser Kontakte, während es den Inhalt der chinesischen Position aber verschleierte [2].

Li Hui, der gerade Kiew, Warschau, Berlin, Paris und Brüssel besucht hat, ist tatsächlich voll in die Diskussion eingestiegen: Auf der Grundlage der "Umfassenden Sicherheitsinitiative" und des "12-Punkte-Plans für den Frieden in der Ukraine", die das chinesische Außenministerium am 24. Februar veröffentlicht hatte, bemerkte er zu seinen Gesprächspartnern, die sie angenommen hatten:
 Russland ist völkerrechtlich befugt, seine militärische Sonderoperation gegen ukrainische "integrale Nationalisten" durchzuführen. Dies verstößt nicht nur nicht gegen die UN-Charta, sondern ist auch eine legitime Anwendung ihrer "Verantwortung für den Schutz" der russischsprachigen Bevölkerung.
- Die Krim, der Donbass und das östliche Neurussland traten der Russischen Föderation rechtmäßig per Referendum bei. Diese alten Ukrainer sind seit Jahrhunderten ein ganz anderes Volk als die heutigen Ukrainer.

Er betonte, dass Russland nicht von Fehlverhalten frei sei:
 Es muss die Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs (d. h. des internen Gerichtshofs der Vereinten Nationen) vom 16. März 2022 respektieren, der sie angewiesen hat, seine Militäroperationen in der Ukraine "auszusetzen", was Russland nur langsam getan hat, aber sie heute respektiert.

Er erklärte geduldig, dass der Westen große Fehler begangen habe:

 den, dass er Waffenlager und NATO-Militärbasen im Osten eingerichtet habe, was gegen ihre Unterschrift unter die OSZE-Erklärung von Istanbul (2013) verstößt;
- den, dass sie 2014 einen Staatsstreich gegen die legitimen Behörden der Ukraine organisiert und unterstützt haben;
- den, die Minsker Vereinbarungen, die von Deutschland und Frankreich (2014 und 2015) unterzeichnet und dann vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ratifiziert wurden, nicht umgesetzt zu haben;
- den, einseitige Zwangsmaßnahmen gegen Russland unter Verletzung der Charta der Vereinten Nationen (1947) ergriffen zu haben.

Dabei hinterfragte er nicht nur das gesamte westliche Narrativ, sondern auch die Art und Weise, wie seine Gesprächspartner über diesen Konflikt denken.

Er machte sie darauf aufmerksam, dass die Vereinigten Staaten im Gegensatz zu dem, was sie behaupten, den Sieg der Ukraine ja nicht wirklich wollen. Dies würde bedeuten, dass ein kleines Land in der Lage wäre, Russland zu besiegen, während die Vereinigten Staaten nicht wagen, es anzugreifen. Das wäre ihre schlimmste Demütigung.

Vor allem ist für außenstehende Beobachter klar, dass der Zweck der Lieferung gebrauchter Waffen an die Ukraine nicht darin besteht, Russland zu besiegen, sondern es so weit zu reizen, bis es seine neuesten Waffen enthüllt. Die Westmächte haben die russische Armee in Syrien nicht ernsthaft beobachtet, da sie zu beschäftigt waren, um den syrischen Staat durch Dschihadisten zerstören zu lassen. Als Präsident Wladimir Putin 2018 erklärte, dass er Hyperschallraketen, Laserwaffen und nuklear angetriebene Raketen besitze [3], riefen sie: „Bluff“. Sie wissen jetzt, dass er die Wahrheit gesagt hat, aber sie kennen nicht die Eigenschaften dieser Waffen und wissen nicht, ob sie die Mittel haben, ihnen etwas entgegen zu setzten.

Im Ukraine-Konflikt zeigt Moskau wirklich große Geduld. Es würde lieber Verluste ertragen, als seine Trumpf-Karten zu spielen. Die einzigen neuen Waffen, die eingesetzt wurden, sind zum einen die Störsysteme für NATO-Kontrollen (die seit 2014 im Schwarzen Meer [4], in Kaliningrad, vor der Küste Koreas [5]) und im Nahen Osten [6] unter realen Bedingungen getestet wurden; und zum anderen die Kinzhal-Hyperschallraketen (die seit März 2022 unter realen Bedingungen in der Ukraine getestet werden). Die Ukrainer behaupten zwar, einige abgeschossen zu haben, aber das ist eindeutig dreiste Propaganda. Sie sind derzeit unaufhaltbar und Russland produziert sie jetzt am Fließband. Sie haben am 9. März unterirdische Bunker getroffen und am 16. Mai ein Patriot-System zerstört.

Niemand weiß mit Sicherheit und Präzision, welche Waffen Russland hat. Aber jeder weiß, dass es viel mächtiger geworden ist als die Vereinigten Staaten, deren Arsenal seit der Auflösung der UdSSR global nicht verbessert wurde.

Seit der ersten Lieferung westlicher Waffen an die Ukraine bedauert Russland, dass dies vor Ort keine nennenswerte Rolle spielen wird, außer noch mehr Zerstörungen und Opfer zu fordern. Die westliche Welt hört nicht zu, weil sie im Voraus davon überzeugt ist, dass jedes russische Wort Propaganda ist. Wenn sie versuchen würde zu verstehen, würde sie verstehen, dass das, was sie tun, nichts mit den Rechtfertigungen zu tun hat, die sie vorgeben.

Kehren wir zur chinesischen Position zurück. Li Hui hat Präsident Wolodymyr Selenskyj, den der Westen zum Helden erhoben hat, offenbar nie erwähnt. Während die westliche Kommunikation alle Akteure personifiziert, weigern sich die Chinesen, dies zu tun. Auf diese Weise behalten sie einen klareren Blick auf die wirkenden Kräfte.

Li Hui sagte übrigens seinen Gesprächspartnern, dass sie keinen Grund hätten, sich der US-Position anzuschließen, und dass sie Autonomie praktizieren sollten. Genau das hat ihnen Präsident Wladimir Putin 2007 auf der Münchner Sicherheitskonferenz gesagt [7]. Herr Li wagte sogar, ihnen zu sagen, dass sie sich an Peking wenden könnten, wenn sie sich wirtschaftlich von Washington trennen sollten.

Für die Europäer war diese vernünftige Rede psychologisch unhörbar. Sie haben die Verbrechen der Vereinigten Staaten im letzten Vierteljahrhundert nicht anerkannt und leugnen sie weiterhin. In Wirklichkeit sind sie von Washington nicht besonders abhängig, aber intellektuell sehr unter dem US-Einfluss.

Sie haben daher nicht auf das chinesische Argument reagiert, erklärten aber wenig überraschend, dass sie sich nicht von den Vereinigten Staaten abkoppeln würden, dass sie vor jeglicher Verhandlung den Abzug der russischen Truppen aus der Ukraine forderten; und dass sie sich auf China verließen, damit der Konflikt nicht zu einem Atomkrieg eskaliert.

Dieser letzte Refrain bezeugt, dass die Europäer noch immer nicht die Position der Russen oder der Chinesen verstanden haben Präsident Putin hat wiederholt erklärt, dass er nicht als Erster strategische Atomwaffen einsetzen würde. Es besteht daher von russischer Seite her keine Gefahr, dass dieser Konflikt ausartet. Zudem sieht sich China im Falle einer globalen Konfrontation als militärischer Verbündeter Russlands, nicht aber in Konflikten, die China nicht betreffen, wie etwa in der Ukraine. China schickt auch keine Waffen dorthin. Diese Unterscheidung zwischen strategischen und taktischen Verbündeten ist ein Merkmal der multipolaren Welt, an deren Aufbau Moskau und Peking arbeiten. Es kommt auch für Russland nicht in Frage, eine Koalition zu seiner Unterstützung in der Ukraine zu bilden.

Es gibt keinen schlimmeren Blinden als den, der nicht sehen will.

Übersetzung
Horst Frohlich
Korrekturlesen : Werner Leuthäusser

[1Die Stunde der Wahrheit in der Ukraine“, von Thierry Meyssan, Übersetzung Horst Frohlich, Korrekturlesen : Werner Leuthäusser, Voltaire Netzwerk, 23. Mai 2023.

[2«Europe Snubs China Bid to Split West», Bojan Pancevski & Kim Mackrael, The Wall Street Journal, May 27, 2023.

[3Das neue russische nukleare Arsenal stellt wieder die Bipolarität der Welt her“, von Thierry Meyssan, Übersetzung Horst Frohlich, Korrekturlesen : Werner Leuthäusser, Voltaire Netzwerk, 6. März 2018.

[4Was machte dem USS Donald Cook im Schwarzen Meer so Angst?“, Übersetzung Horst Frohlich, Voltaire Netzwerk, 22. September 2014.

[5Russland stört die Steuerung des Flugzeugträgers Ronald Reagan und der 7. Flotte“, Übersetzung Sabine, Voltaire Netzwerk, 5. November 2015.

[6Russisches Militär blockiert teilweise libanesischen und zypriotischen Luftraum“, Übersetzung Horst Frohlich, Voltaire Netzwerk, 21. November 2015.

[7Unipolare Lenkung ist unrechtmäßig und unmoralisch“, von Wladimir Putin, Übersetzung Sabine, Voltaire Netzwerk, 11. Februar 2007.