Joseph Stiglitz kommentiert die neuen Enttäuschungen der US-Wirtschaft, die wie ein unangenehmer Wecker für die Befürworter des „amerikanischen Traums“ klingen. Dank des Sonderstatus des Dollars besitzt Washington noch eine unangemessene Autorität, was seine objektiven wirtschaftlichen Möglichkeiten betrifft. Bis jetzt gelang es den USA militärisch jegliche Herausforderung ihrer Rentensituation abzuschrecken. Nichtsdestoweniger ist ihre Lage gegenüber den Schwellenländern weniger und weniger haltbar, sei es auf moralischem oder auf militärischem Gebiet. In dieser Sicht klingt das doppelte Veto vom 4. Februar wie ein Rückruf zum Realitätsprinzip. Die Ausgleichung ist unumgänglich, und es sind die geopolitischen Folgen dieser wirtschaftlichen Anpassung die wir in 2012 erleben werden, meint der Nobelpreisträger in Ökonomie.
2011 wird das Jahr bleiben, in dem viele Amerikaner trotz allgemeinem Optimismus begonnen haben, die Hoffnung zu verlieren. Präsident Kennedy hatte erklärt, dass die Flut alle Schiffe hochhebt; aber jetzt wo das Meer zurückebbt, wird den Amerikanern klar, dass nicht nur die größten Schiffe die Chance hatten weiter fort getrieben zu werden, sondern dass auch die kleinsten in Stücke gerissen wurden.
Während einer kurzen Zeit dachten Millionen Personen mit mehr oder weniger Berechtigung, dass sie vielleicht den „amerikanischen Traum“ realisieren könnten. Jetzt verschwindet auch dieser Traum. Die Amerikaner, die ihren Arbeitsposten in 2008 oder 2009 verloren hatten, haben alle ihre Ersparnisse in 2011 ausgeschöpft. Sie haben kein Recht mehr auf Arbeitslosenunterstützung. Die Schlagzeilen der Zeitungen sprechen von neuen Stellen, aber nicht genügend, um die Neuankömmlinge auf dem Arbeitsmarkt aufzunehmen, und haben kaum Beachtung für die 50 jährigen Arbeitslosen, die kaum Hoffnung haben, jemals noch einen Job zu finden.
Die Leute mittleren Alters, die dachten, sie blieben nur einige Monate ohne Arbeit, verstehen jetzt, dass sie in den Ruhestand gezwungen wurden. Die frisch graduierten Studenten, die ihre Studienanleihe von zehntausenden Dollar zurückzahlen müssen, finden keine Arbeit. Leute die um Gastfreundschaft bei ihren Eltern oder Freunden bitten mussten, sind heute ohne Wohnung. Die während des Real-Estate-Booms gekauften und jetzt wieder zum Kauf angebotenen Häuser haben keinen Käufer gefunden und sind mit Verlust verkauft worden. Mehr als sieben Millionen amerikanische Familien haben ihr Heim verloren.
Die Achillesferse des Finanzbooms des letzten Jahrzehntes ist jetzt auch in Europa sichtbar. Das Zögern beim Vorgehen gegenüber Griechenland und die Wahl der wichtigsten Länder des Kontinents für Sparsamkeit sind Europa letztes Jahr teuer gekommen. Italien ist auch angesteckt worden. In Spanien, wo der Arbeitslosenanteil schon am Anfang der Rezession den 20% nahe kam, geht er weiter hoch. Man hat selbst das Undenkbare erwogen: das Ende des Euros.
Dieses Jahr könnte noch ärger sein. Man kann nicht ausschließen, dass die USA ihre politische Probleme lösen und dann Mittel für wirtschaftliche Anregung adoptieren, die notwendig sind um die Arbeitslosenquote auf 6 oder 7% zu senken (die Quote vor der Krise zu erreichen wäre sicherlich zu ehrgeizig). Aber es ist genauso unwahrscheinlich zu erleben, dass Europa aufhört, die Sparsamkeit als einziges Mittel anzusehen, um seine Probleme zu lösen, obwohl es dadurch seine wirtschaftliche Verlangsamung verschärft. Ohne Wachstum werden sich die Krisen der Schulden und des Euros verstärken. Und die langfristige Krise der in 2007 geplatzten Immobilienblase und die ihr folgende Rezession werden sich verlängern.
Die großen Schwellenländer, die es geschafft haben den Stürmen von 2008 und 2009 zu entkommen, könnten einige Schwierigkeiten haben, den am Horizont stehenden Problemen die Stirne zu bieten. Brasilien ist schon in Wachstumstop, was die Angst seiner Nachbarländer Lateinamerikas erweckt.
Man muss auch mit den langfristigen Problemen wie z.B. der Klimaerwärmung rechnen, sowie mit den anderen Umweltgefahren und fast überall mit dem Anstieg der Ungleichheit. Manche dieser Probleme werden akuter, während eine große Arbeitslosigkeit die Gehälter drückt und die Armut verschärft.
Es bleibt jedoch ein positiver Punkt: das Lösen langfristiger Probleme würde jenes der kurzfristigen erleichtern. Das Wachstum der Investitionen für die Angleichung der Wirtschaft an die Klimaerwärmung würde das Wachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen fördern. Eine Umverteilung und progressivere Besteuerung würde die Ungleichheit und die Arbeitslosigkeit mindern indem sie die Anfrage ankurbeln. Eine größere Besteuerung der Reichsten würde die nötigen öffentlichen Dienste finanzieren und einen sozialen Schutz jenen gewähren, die am unteren Ende der Gehaltspyramide stehen, besonders den Arbeitslosen.
Eine ausgewägte Erhöhung der Steuereinkommen und der öffentlichen Ausgaben würde die Produktion erhöhen, ohne unbedingt das Haushaltsdefizit zu belasten. Die Gefahr jedoch ist, dass die Politik und die ideologischen Betrachtungen auf beiden Seiten des Atlantiks (aber sicherlich mehr auf Seiten der USA) jeglichen Versuch in diesem Sinne blockieren. Das Beharren auf dem Kampf gegen Defizit wird zu einer Verringerung der Sozialausgaben führen, was die Ungleichheiten erhöhen wird. Obwohl dieses Beharren offensichtlich konterproduktiv ist (besonders bei starker Arbeitslosigkeit), wird der dem Angebot ständig gegebene Vorrang verhindern, die Steuern der Reichsten zu erhöhen.
Selbst vor der Krise war schon eine Ausgleichung der weltwirtschaftlichen Macht im Gange – die Korrektur einer geschichtlichen, 200 Jahre langen Anomalie, während denen Asiens Welt-BIP Anteil von 50% auf weniger als 10% fiel. In Asien und anderen Schwellenländern entfernt sich ohne Zweifel das pragmatische Engagement für ein Wachstum von den schlecht inspirierten Mitteln des Westens, Engagement, das unter dem Einfluss der Ideologie und jenem von speziellen Interessen den Eindruck geben kann, sich gegen das Wachstum zu richten.
Die weltwirtschaftliche Ausgleichung wird sicherlich zunehmen, was politische Spannungen hervorrufen wird. Angesichts der Probleme denen die Weltwirtschaft gegenüber steht, werden wir uns glücklich schätzen können, falls sie sich nicht innerhalb der nächsten 12 Monate manifestieren.
Quelle granma.cu
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