Frieden zu schließen ist ganz einfach: es genügt, damit aufzuhören, miteinander Krieg zu führen. Aber im Großen Nahen Osten ist es viel komplizierter, weil es eine Vielzahl von Akteuren gibt, für die jede Lösung deren widersprüchliche Forderungen erfüllen muss. Unter diesen Umständen kann kein Frieden völlig gerecht sein, aber er kann zumindest und muss die Sicherheit aller garantieren.
Dieser Artikel folgt: „Wie Washington triumphieren will“, von Thierry Meyssan, Voltaire Netzwerk, 23. Juni 2020.
Während des gesamten Jahres 2011 und des ersten Halbjahres 2012 diskutierten die Vereinigten Staaten und Russland heimlich über ihre Pläne im Erweiterten Nahen Osten. Das Pentagon verfolgte die Rumsfeld/Cebrowski-Strategie, d. h. den Plan, alle staatlichen Strukturen (Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien...) zu zerstören, aber Präsident Barack Obama suchte nach einem Weg, sich militärisch von der Region zurückzuziehen, um seine Truppen in den Pazifischen Ozean rund um China zu verlegen ("Pivot to Asia"). Russland hingegen hoffte, seinen Einfluss in der Region zurückzugewinnen, indem es sich auf die russischsprachige Bevölkerung Israels und auf Syrien verließ.
Wir kennen den Inhalt dieser Diskussionen nicht, die schwierig waren. Während des ganzen Monats Juni entzweite eine Kontroverse die beiden Mächte und jeder beschuldigte den anderen, auf der "falschen Seite der Geschichte" zu stehen [1]. Wie auch immer, Washington und Moskau haben am 30. Juni 2012 in Genf eine internationale Konferenz über Syrien einberufen, allerdings ohne einen einzigen Syrer. Da sie sich bewusst waren, dass der Krieg in Syrien kein Bürgerkrieg war, schlossen beide zusammen einen Friedensvertrag und zwar vor ihren jeweiligen Verbündeten als Zeugen. Alle glaubten, dass trotz der militärischen Ungleichheit zwischen den beiden Protagonisten ein neues Jalta, eine neue Teilung der Welt stattgefunden habe und dass dieser Vertrag der erste Akt davon war [2].
Eine Woche später organisierte der französische Präsident François Hollande jedoch ein Treffen der "Freunde Syriens" in Paris, um den Konflikt wiederzubeleben [3]. Die NATO-Verbündeten, in Anwesenheit und Komplizenschaft von Außenministerin Hillary Clinton [4], ließen die Obama-Putin-Verhandlungen scheitern. Der Zeremonienmeister der Genfer Konferenz und ehemalige UN-Generalsekretär Kofi Annan prangerte das Doppelspiel eines der Protagonisten an und trat am 2. August mit einem Paukenschlag von seinem Amt als UN-Sondergesandter für Syrien zurück. Einige Besorgte der Blockfreien [5], dann China [6], boten an, die Verhandlungen wieder aufzunehmen, aber ohne Erfolg.
Es folgten neun Jahre Krieg.
Obwohl das Pentagon die Rumsfeld/Cebrowski-Strategie fortsetzt, verhandelt Präsident Donald Trump im Jahr 2020 heimlich nicht nur mit seinen Amtskollegen Wladimir Putin, Baschar al-Assad, Benjamin Netanjahu und Benny Gantz, sondern wahrscheinlich auch mit vielen anderen.
Entgegen der landläufigen Meinung sind die Widersprüche der US-Seite nicht neu, da sie bereits vor neun Jahren unter Barack Obama existierten. Sie sind daher nicht Donald Trump anzulasten, sondern einer tiefen und uralten Krise der Vereinigten Staaten, die der Westen nicht in Betracht ziehen will. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger versuchte er nicht, seine Bauern von einer Region des Weltschachbretts in eine andere zu verlegen, sondern seine Truppen nach Hause zu bringen. Die russischen Forderungen hingegen sind erheblich gestiegen. Moskau hat in Syrien militärisch investiert und vor Ort die Macht seiner wiedergeborenen Militärindustrie und seiner neuen Armee gezeigt. Russland, einst durch den Zusammenbruch der UdSSR und der internen Plünderung durch Boris Jelzin in Trümmern [7], ist wieder zu einer Großmacht geworden, die sich nicht nur selbst verteidigen, sondern auch ihren US-Rivalen zerstören kann, was sie als einziger Staat der Welt ins Auge fassen kann. Wir sprechen über globale Gouvernanz, es geht tatsächlich um ein Mächte-Gleichgewicht.
Wir wissen heute nicht mehr als im Jahr 2011 über den Inhalt der Verhandlungen zwischen dem Weißen Haus und dem Kreml, aber wir können aus den aktuellen Ereignissen ableiten, was auf dem Spiel steht. Entweder geht der Krieg, der alle Staaten der Region nacheinander zerstört, weiter, oder die „Großen Zwei“ teilen sich die Region in separate Zonen, oder sie verwalten sie gemeinsam. Es ist natürlich auch möglich, diese Optionen zu mischen: eine dieser drei Formeln in der gesamten Region anzuwenden oder mehrere je nach den Ländern.
Jedes Abkommen muss auf einer realistischen Analyse des Großen Nahen Ostens basieren und nicht auf Zeitungsschlagzeilen. Die Medien berichten nicht über das wahre Machtgleichgewicht in der Region, weil sie die Konflikte so behandeln, als wären sie voneinander getrennt, was absolut nicht der Fall ist. Jedes Abkommen hier hat Folgen für andere, so dass Frieden für die einen eine Katastrophe für andere bedeuten kann.
Entgegen einer allgemeinen Meinung stehen heute weder die Palästinenser noch die Kurden im Mittelpunkt. Sie haben ihre legitime Causa verloren, indem sie vorgaben, Nationalstaaten außerhalb ihrer historischen Territorien errichten zu wollen. Weder die Türken noch die Iraner stellen eine Gefahr dar, sie sind ja immer bereit, heimlich zu verhandeln. Das Problem, das seit vierzig Jahren alles zum Scheitern verurteilt, ist die Bereitschaft mancher Angelsachsen, die Kolonisierung der Region über Israel fortzusetzen, und der Widerstand einiger Araber, über die libanesische Hisbollah. Die koloniale Fraktion Israels unter Benjamin Netanyahu verliert nun jedoch an Schwung gegenüber der nationalistischen Fraktion mit Benny Gantz. Auf der anderen Seite kann die Hisbollah nicht mehr auf ihre beiden Geldgeber zählen: Syrien, das sehr geschwächt ist, und den Iran, der gerade ein Abkommen mit den Briten im Jemen geschlossen hat, ein Abkommen mit den Vereinigten Staaten im Irak und einen militärischen Bund mit der Muslimbruderschaft in Libyen.
Daher erfordert jede nachhaltige Lösung beide Punkte zugleich:
– eine gemeinsame Verwaltung Israels durch die Vereinigten Staaten und Russland und
– eine Verwaltung des Libanon und Syriens durch Russland unter US-Aufsicht.
Diese Entwicklung wird früher oder später stattfinden, trotz des Widerstands einiger Israelis, Libanesen und Syrer, denn sie ist die einzige, die die Sicherheit aller garantieren kann.
Die russische Seite hat sich bereits in diese Richtung neu organisiert. Der russische Botschafter für die Levante, Alexander Zaspikin, konzentriert sich bereits auf den Libanon allein, wo er seinen Amtssitz hat,, während der neue russische Botschafter in Damaskus, Alexander Efimow, die Möglichkeit gewonnen hat, direkt darüber mit Präsident Putin zu sprechen, ohne über sein Ministerium gehen zu müssen, in dem sein Vorgänger in Syrien, Alexander Kinshtschak, die Region überwachen wird.
Was heute geschieht, ist seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bereits sehr oft gescheitert, aber die Region hat sich weiterentwickelt, ebenso wie die Großmächte. Donald Trump ist sehr realistisch, während Wladimir Putin einen ausgeprägten Sinn für internationales Recht hat. Wenn es beiden gelingt, ihre Ansichten über den Grossen Nahen Osten in Einklang zu bringen, wird dies unmittelbar positive Folgen im Fernen Osten haben.
[1] „Auf der guten Seite der Geschichte“, von Sergei Lawrow, Übersetzung Horst Frohlich, Voltaire Netzwerk, 22. Juni 2012.
[2] “Action Group for Syria Final Communiqué”, Voltaire Network, 30 June 2012.
[3] «Discours de François Hollande à la 3ème réunion du Groupe des amis du peuple syrien», par François Hollande, Réseau Voltaire, 6 juillet 2012.
[4] “Clinton at Friends of Syrian People Ministerial Meeting”, by Hillary Clinton, Voltaire Network, 6 July 2012.
[5] “Final Statement from Tehran Consultative Meeting on Syria”, Voltaire Network, 9 August 2012.
[6] „Die chinesische Lösung“, von Thierry Meyssan, Übersetzung Horst Frohlich, Tichreen (Syrie) , Voltaire Netzwerk, 7. November 2012.
[7] Alle großen Unternehmen der UdSSR waren staatliche. Präsident Boris Jelzin versammelte Freunde an einem Tisch und verteilte ihnen die Industriejuwelen. Während die Freunde des Präsidenten sofort zu Milliardären wurden, sank die Lebenserwartung der Russen plötzlich um 15 Jahre. Präsident Wladimir Putin brauchte ein Jahrzehnt, um den Lebensstandard seiner Mitbürger und den Status seines Landes wiederherzustellen.
Bleiben Sie in Kontakt
Folgen Sie uns in sozialen Netzwerken
Subscribe to weekly newsletter