Der Präsident der Ukraine spricht vor dem G20-Gipfel.

Als ich vor etwa zehn Tagen in Brüssel mit einem aufgeschlossenen und führenden Kopf der Europaabgeordneten sprach, hörte ich ihn sagen, dass der ukrainische Konflikt sicherlich komplex sei, aber dass das Offensichtlichste dabei sei, dass Russland in dieses Land eingefallen war. Ich antwortete mit der Feststellung, dass das Völkerrecht Deutschland, Frankreich und Russland verpflichtete, die Resolution 2202 umzusetzen, was Moskau allein getan hatte. Ich fuhr fort, indem ich ihn an die Verantwortung, die Bevölkerung im Falle eines Versagens ihrer eigenen Regierung zu schützen, erinnerte. Er unterbrach mich und fragte: "Wenn sich meine Regierung über das Schicksal der Bürger in Russland beschwert und dieses Land angreift, werden Sie das normal finden?" Ja, antwortete ich, wenn Sie eine Resolution des Sicherheitsrats haben. Haben Sie eine? Verblüfft wechselte er das Thema. Dreimal fragte ich ihn, ob wir das Problem der „ukrainischen integralen Nationalisten" ansprechen könnten. Dreimal weigerte er sich. Wir trennten uns höflich.

Die Frage der Schutzverantwortung [R2P] hätte relativiert werden müssen. Dieses Prinzip erlaubt keinen Krieg, sondern eine Polizeioperation, die mit militärischen Mitteln durchgeführt wird. Deshalb achtet der Kreml darauf, diesen Konflikt nicht als "Krieg", sondern als "militärische Spezialoperation" zu bezeichnen. Beide Sprechweisen beziehen sich auf die gleichen Fakten, aber "spezielle militärische Operation" begrenzt den Konflikt. Sobald seine Truppen in die Ukraine einmarschierten, machte der russische Präsident Wladimir Putin deutlich, dass er nicht beabsichtige, dieses Gebiet zu annektieren, sondern nur die von den ukrainischen "Nazis" verfolgte Bevölkerung zu befreien. Ich habe in einem langen früheren Artikel darauf hingewiesen, dass der Begriff "Nazis" zwar im historischen Sinne korrekt ist, aber nicht der Art und Weise entspricht, wie diese Leute sich selbst bezeichnen. Sie verwenden den Ausdruck "integrale Nationalisten". Man bedenke, dass die Ukraine der einzige Staat der Welt ist, der eine explizit rassistische Verfassung besitzt.

Die Tatsache, dass das Völkerrecht zugunsten Russlands entscheidet, bedeutet nicht, dass man ihm einen Blankoscheck erteilt. Jeder muss die Art und Weise kritisieren, in der Russland das Gesetz umsetzt. Die Menschen des Westens finden Russland immer "asiatisch", "wild" und "brutal", auch wenn sie sich selbst bei vielen Gelegenheiten viel destruktiver gezeigt haben.

Die Wende

Nachdem die russischen und westlichen Standpunkte geklärt sind, ist es klar, dass mehrere Ereignisse zu einer westlichen Entwicklung geführt haben.

 Der Winter beginnt, eine harte Jahreszeit im kontinentalen Europa. Die russische Bevölkerung ist sich seit der napoleonischen Invasion bewusst, dass sie ein so großes Land nicht verteidigen kann. Sie hat also gelernt, genau die Weite ihres Territoriums und die Jahreszeiten zu nutzen, um jene zu besiegen, die sie angreifen. Mit dem Winter wird die Front für mehrere Monate an Ort und Stelle bleiben. Jeder kann sehen, dass die russische Armee entgegen der Behauptung, die Russen seien besiegt, den Donbass und einen Teil von Neurussland befreit hat.

 Noch bevor der Winter hereinbrach, hat der Kreml die nördlich des Dnjepr lebende befreite Bevölkerung von Cherson evakuiert und seine Armee den am Nordufer des Dnjepr gelegenen Teil von Cherson geräumt. Zum ersten Mal markiert eine natürliche Grenze, der Dnjepr, eine Grenze zwischen den von Kiew kontrollierten Gebieten und denen, die von Moskau kontrolliert sind. Der Mangel an natürlichen Grenzen war schon in der Zwischenkriegszeit der Grund, der alle aufeinander folgenden Mächte in der Ukraine zu Fall brachte. Jetzt ist Russland aber in der Lage, sich zu halten.

 Seit Beginn des Konflikts kann die Ukraine auf unbegrenzte Hilfe der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten zählen. Die Zwischenwahlen in den USA haben der Biden-Regierung jedoch die Mehrheit im Repräsentantenhaus genommen. Von nun an wird Washingtons Unterstützung begrenzt sein. Ebenso stößt auch die Europäische Union an ihre Grenzen. Die Bevölkerung versteht weder die steigenden Energiekosten, die Schließung einiger Fabriken noch die Unfähigkeit, normal zu heizen.

 Nachdem man die Kommunikationsfähigkeiten des Schauspielers Wolodymyr Selenskyj bewundert hat, beginnt man sich in manchen Machtkreisen über die Gerüchte seines plötzlichen Vermögens zu wundern. In acht Monaten Krieg wäre er Milliardär geworden. Die Unterstellung ist nicht überprüfbar, aber der Skandal der Pandora Papers (2021) macht sie glaubwürdig. Ist es wirklich notwendig, sich vollkommen verbluten zu lassen, um zu sehen, dass Spenden in der Ukraine ankommen, aber in Offshore-Firmen verschwinden?

Die Angelsachsen (d.h. London und Washington) wollten den G20-Gipfel in Bali in einen antirussischen Gipfel verwandeln. Sie hatten zunächst darauf gedrängt, dass Moskau wie beim G8-Gipfel aus der Gruppe ausgeschlossen wird. Aber wenn Russland abwesend gewesen wäre, wäre China, mit Abstand der größte Exporteur der Welt, auch nicht gekommen. Also wurde der Franzose Emmanuel Macron beauftragt, die anderen Gäste zur Unterzeichnung einer blutigen Erklärung gegen Russland zu bewegen. Zwei Tage lang versicherten westliche Nachrichtenagenturen, dass der Fall erledigt sei. Aber letztendlich schließt die Abschlusserklärung, wenn sie auch den westlichen Standpunkt zusammenfasst, die Debatte doch mit diesen Worten: "Es gab andere Standpunkte und unterschiedliche Einschätzungen der Situation und der Sanktionen. In Anbetracht der Tatsache, dass die G20 nicht das Forum zur Lösung von Sicherheitsproblemen ist, wissen wir, dass Sicherheitsfragen erhebliche Folgen für die Weltwirtschaft haben können." Mit anderen Worten ist es den Westmächten zum ersten Mal nicht gelungen, ihre Weltanschauung dem Rest der Welt aufzuzwingen.

Die Falle

Schlimmer noch: Der Westen erzwang eine Videointervention von Wolodymyr Selenskyj, wie er es am 24. August und 27. September im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen getan hatte. Doch während Russland im September in New York vergeblich versucht hatte, sich dagegen zu wehren, akzeptierte es seine Videointervention im November auf Bali. Im Sicherheitsrat hatte Frankreich, das den Vorsitz innehatte, gegen die UN-Vorschriften verstoßen, indem einem Staatsoberhaupt per Video das Wort erteilt wurde. Dagegen vertrat Indonesien auf dem G20-Gipfel eine absolut neutrale Position und hätte wahrscheinlich nicht zugestimmt, ihm ohne russische Erlaubnis das Wort zu erteilen. Das war eindeutig eine Falle. Präsident Selenskyj, der die Funktionsweise dieser Organe nicht kennt, ist da hineingefallen.

Nachdem er Moskaus Aktion karikiert hatte, forderte er dessen Ausschluss aus der... "G19". Mit anderen Worten, der kleine Ukrainer gab im Namen der Angelsachsen einen Befehl an die Staatsoberhäupter, Premierminister und Außenminister der 20 größten Weltmächte und wurde nicht gehört. In Wirklichkeit drehte sich der Streit zwischen diesen Führern nicht um die Ukraine, sondern darum, ob sie der amerikanischen Weltordnung unterworfen waren oder nicht. Alle Teilnehmer aus Lateinamerika, Afrika und vier aus Asien sagten, dass diese Herrschaft vorbei sei; dass die Welt jetzt multipolar sei.

Die westlichen Teilnehmer müssen gespürt haben, wie der Boden unter ihren Füßen bebte. Sie waren nicht die einzigen. Wolodymyr Selenskyj sah zum ersten Mal, dass seine Paten, bis dahin absolute Herren der Welt, ihn ohne zu zögern im Stich ließen, um ihre Position für einige Zeit noch beizubehalten.

Es ist wahrscheinlich, dass Washington mit Moskau unter einer Decke steckte. Die Vereinigten Staaten stellen fest, dass sich die Dinge auf globaler Ebene zu ihrem Nachteil wenden. Sie werden absolut nicht zögern, dem ukrainischen Regime die Schuld zu geben. William Burns, Direktor der CIA, hat Sergej Naryschkin, den Direktor des russischen Geheimdienstes SVR, bereits in der Türkei getroffen. Diese Gespräche folgen denen von „Jake“ Sullivan, dem nationalen Sicherheitsberater der USA, mit mehreren russischen Beamten. Aber Washington hat in der Ukraine nichts zu verhandeln. Zwei Monate vor dem Konflikt in der Ukraine habe ich erklärt, dass die Wurzel des Problems nichts mit diesem Land zu tun hat, genauso wenig wie mit der NATO. Es geht im Wesentlichen um das Ende der unipolaren Welt.

Es ist daher nicht verwunderlich, dass Wolodymyr Selenskyj wenige Tage nach der G20-Ohrfeige erstmals öffentlich seinen US-Sponsoren widersprach. Er beschuldigte Russland, eine Rakete auf Polen abgefeuert zu haben, und blieb bei seiner Behauptung, während das Pentagon sagte, dies sei falsch, und es eine ukrainische Abwehrrakete gewesen sei. Für Selenskyj ging es darum, weiterhin im Einklang mit dem Warschauer Vertrag zu handeln, der am 22. April 1920 von den „integralen Nationalisten“ von Symon Petljura mit dem [polnischen] Piłsudski-Regime geschlossen wurde; Polen dazu zu drängen, gegen Russland in den Krieg zu ziehen. Dies ist das zweite Mal, dass Washington vor seinen Ohren ein Glöckchen läutet. Er hat es nicht gehört.

Wahrscheinlich werden sich diese Widersprüche nicht mehr in der Öffentlichkeit zeigen. Die westlichen Positionen werden geschmeidiger werden. Die Ukraine wurde gewarnt: In den kommenden Monaten wird sie mit Russland verhandeln müssen. Präsident Selenskyj kann seine Flucht jetzt schon vorbereiten, weil seine geschlagenen Landsleute ihm nicht verzeihen werden, dass er sie getäuscht hat.

Übersetzung
Horst Frohlich
Korrekturlesen : Werner Leuthäusser