Ein Monat vor den Anschlägen in Paris-Saint Denis veranstaltete Präsident Erdoğan wahlpolitische Kundgebungen an der deutsch-französischen Grenze in Straßburg, so als wäre er bei sich zu Hause. Die Menge skandiert: "Wir sind deine Soldaten. Du bist unser Kommandeur."

Präsident Emmanuel Macron und die Regierung von Jean Castex haben einen Gesetzentwurf zur Bekämpfung der politischen Instrumentierung des muslimischen Glaubens ausgearbeitet. Dieser Text wird derzeit im Parlament diskutiert.

Er basiert auf vier starken Ideen, darunter das Finanzierungsverbot von religiösen Vereinigungen durch ausländische Staaten. Jeder ist sich bewusst, dass es sich hier um den Kopf des Islamismus dreht, aber niemand wagt diese Staaten zu nennen: die Türkei und Katar, die vom Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten ferngesteuert werden. Der Kampf gegen den Islamismus in Frankreich hat in der Außenpolitik zahlreiche und brutale Konsequenzen. Keine Partei wagt es, dieses Problem anzusprechen, was alle Bemühungen in diesem Kampf unwirksam macht.

Frankreich hat diese Unschlüssigkeit gegenüber dem Islamismus bereits Mitte der 90er Jahre erlebt. Damals unterstützten das Vereinigte Königreich und die USA die Dschihadisten in Algerien gegen den französischen Einfluss. London bietet auch politisches Asyl für diese "Demokraten", die gegen ein Militärregime kämpfen. Innenminister Charles Pasqua wagt daher eine Machtprobe, die ihn dazu bringen wird, die Mitglieder eines Kommandos der Bewaffneten Islamischen Gruppe (GIA), die ein Flugzeug von Air France entführt hatten, erschießen zu lassen und den Pariser CIA-Chef (der im Übrigen in einem Wirtschaftsspionage Fall kompromittiert wurde) auszuweisen. Damit war die Frage für 20 Jahre geklärt.

Die Generaldirektion für Innere Sicherheit (DGSI) hat im Journal du Dimanche vom 7. Februar 2021 ein Pressedossier angeregt hinsichtlich der Art und Weise, wie "Erdoğan Frankreich infiltriert“. Wohlgemerkt: Die Zeitung stellt die Türkei nicht in Frage, sondern nur Präsident Erdoğan. Ebenso zitiert die Zeitung, zumindest zunächst, namentlich weder Katar noch Großbritannien noch die USA. Vor allem zitiert sie den Millî Görüş, den sie beschuldigt, ohne zu erwähnen, dass er die Miliz von Präsident Necmettin Erbakan war und dass Präsident Erdoğan einer der Führer davon war. Schließlich unterlässt sie es, die mutmaßliche Rolle des türkischen Geheimdienstes bei den Anschlägen vom 13. November 2015 (Bataclan) anzusprechen.

Das ist das Thema, das wir entwickeln werden, indem wir viele Vorurteile korrigieren.

Didier Lemaire, Philosophielehrer in der Pariser Region (in Frankreich wird Philosophie in der Abschlussklasse unterrichtet), wurde von Islamisten bedroht, weil er es wagt, über den politischen Islam zu diskutieren. Er wurde unter Polizeischutz gestellt.

Islam: Glaube und Politik

Mohammed war zugleich ein Prophet, ein Kriegsherr und ein Prinz. Der Islam, den er begründete, war sowohl ein besonderer Ritus des Christentums [1], seine Politik gegenüber den Stämmen der arabischen Halbinsel und das Recht, das er erlassen hat. Niemand war nach seinem Tod in der Lage, sein geistiges Erbe von seinem politischen und militärischen Handeln zu unterscheiden. Im Gegenteil, seine politischen Nachfolger (arabisch: "Kalifen") haben seine Autorität in religiösen Fragen geerbt, obwohl sie keine theologischen Kenntnisse hatten und manchmal sogar nicht an Gott glaubten.

Heute wollen die in Europa lebenden Muslime mit diesem Islam aufräumen, und nur den spirituellen Teil bewahren und die veralteten Aspekte, insbesondere die Scharia, aufgeben. Im Gegensatz dazu tut Präsident Erdoğan, der am 29. Oktober 2023 (100. Jahrestag der Türkischen Republik) offiziell zum Kalifen der Muslime erklärt werden möchte, alles, um sich dagegen zu wehren.

Es handelt sich also um einen Kampf zwischen zwei Zivilisationen. Nicht zwischen der europäischen Kultur und der der Türkei, sondern der modernen Zivilisation gegen eine andere, die bereits vor einem Jahrhundert verschwunden ist.

Der ehemalige islamistische Ministerpräsident Necmettin Erbakan und seine Leibwächter. Auf der rechten Seite des Bildes Recep Tayyp Erdoğan.

Erdoğan: Ein islamistischer Schläger, der Präsident wurde

Präsident Erdoğan ist kein Politiker wie jeder andere. Er begann seine Karriere wie ein Schläger, der sich in den Straßen der Hauptstadt schlug. In den 70er Jahren trat er in die Politik ein, indem er einer islamistischen Miliz, der Akıncılar, beitrat, bis er sich der 1997 beim Sturz des Premierministers Necmettin Erbakan gegründeten Miliz, der Millî Görüş, anschloss. Diese Handlanger-Organisation wurde vom Irak des Präsidenten Saddam Hussein finanziert und unter die Kontrolle des Großmeisters des Sufi-Ordens der Naqchbandis, General Ezzat Ibrahim Al-Douri, dem künftigen irakischen Vizepräsidenten gestellt.

In Afghanistan, Gulbuddin Hekmatyar zu seinen Füßen Rachid Ghanoucchi (links auf dem Foto) und Recep Tayyip Erdoğan (rechts).

Der Anglo-Tunesier Rachid Ghanoucchi, eine der großen Persönlichkeiten der Bruderschaft der Muslimbrüder, sagte: "In der arabischen Welt meiner Generation sprachen die Leute, wenn sie über die islamische Bewegung sprachen, von Erbakan. Als sie von Erbakan sprachen, war es so, als sprächen sie über Hassan al-Banna und Sayyed Qutb." Auch wenn die islamistische Bewegung organisatorisch zwischen der Muslimbruderschaft einerseits und den Naqchbandis auf der anderen Seite getrennt ist, bilden sie daher zweifellos eine einzige Ideologie.

Es war im Namen des Millî Görüş, dass Recep Tayyip Erdoğan eine wirksame Rolle in den Kriegen in Afghanistan an der Seite von Gulbuddin Hekmatyar und in den Tschetschenien-Kriegen an der Seite von Chamil Bassajew spielte. Nachdem er Präsident geworden war, hat er sich während des NATO-Krieges in Syrien als Anführer dieser Strömung etabliert. Heute ist er zugleich der Anführer der Muslimbruderschaft (mit Sitz im Erweiterten Nahen Osten und in Europa) und der Anführer der Naqchbandis (vor allem präsent in Bosnien und Herzegowina, im russischen Dagestan, in Südasien und im chinesischen Xinjiang).

Die islamistischen Netzwerke

Die Umgestaltung des Naqchbandis-Ordens und die Gründung der Bruderschaft der Muslimbrüder nach dem Vorbild der Vereinigten Großloge Englands, wurden vom Vereinigten Königreich im Zusammenhang mit dem "Großen Spiel" gegen das russische Imperium und der kolonialen Eroberung des Sudan geleitet. Auch heute noch führt der MI6 eine direkte Kontrolle über diese beiden Organisationen durch. Die Geber wechseln (zuerst Saudi-Arabien, dann Katar und Türkei), aber nie der Auftraggeber.

Vor dem Ersten Weltkrieg nutzten die Briten die Al-Azhar-Universität in Kairo, um die muslimische Welt hinter einer einzigen Version des Korans zu vereinen (damals gab es etwa 40). Es ging darum, die Passagen, die von der grausamen sudanesischen Sekte Mahdi gegen das britische Imperium benutzt wurden, aus dem Text zu entfernen. Der große Imam von Al-Ahzar wurde geschickt, um sudanesische Muslime zum "wahren" Islam zu bekehren, der gerade erst geboren wurde.

Artikel von Sayyed Qutb, erschienen in al-Taj al-Masri (die "Krone von Ägypten"), am 23. April 1943: "Warum ich Freimaurer wurde". Später verurteilte die Muslimbruderschaft die Freimaurerei im Allgemeinen und tilgte die Karriere ihres Denk-Meisters.

Die erste Form der Bruderschaft der Muslimbrüder wurde vom Ägypter Hassan el-Banna gegründet. Sie wurde als Fortsetzung des britischen Engagements in der islamischen Welt konzipiert. Die zweite Form der Bruderschaft wurde nach dem Zweiten Weltkrieg und der Hinrichtung von Hassan el-Banna, direkt durch den MI6 organisiert. Bald brachten die Vereinigten Staaten einen atheistischen Freimaurer-Intellektuellen, Sayyed Qutb, dort ein. Er konvertierte zum Islam, den er als Waffe sah, um die Macht zu übernehmen. Er schuf eine binäre Ideologie (sie und wir, das Verbotene und Erlaubte) und predigte den Dschihad. Nach und nach, unter der Kontrolle der Briten und mit der Finanzierung von Saudi-Arabien (Islamische Weltliga), dehnte sich die Bruderschaft auf die Gesamtheit aus, die wir heute den Erweiterten Nahen Osten nennen. Sie übernahm die Macht in Pakistan und ermöglichte den Krieg der CIA gegen die Sowjets in Afghanistan. Dann verwandelte sie sich in eine echte Armee und kämpfte in Bosnien-Herzegowina an der Seite des Pentagon. Sie ist heute an mehreren Konflikten beteiligt, unter anderem in der Sahelzone, in Libyen, Syrien, Irak, Jemen und Afghanistan [2].

Der Iran von Ruhollah Khomeini beruht ebenfalls auf einer Auffassung des politischen Islams. Der Ayatollah hatte Hassan el-Banna in Kairo getroffen, nicht um sich ihm anzuschließen, sondern um sich die muslimische Welt mit ihm zu teilen. Der aktuelle Führer der Revolution, Ali Khamenei, übersetzte zwei Bücher von Sayyed Qutb, den er nach eigenen Aussagen bewundert. Er lädt die Brüder systematisch zu den Kongressen ein, die er über den Islam organisiert, aber die beiden Gruppen versäumen nie eine Gelegenheit, einander im privaten Kreis zu verleumden. Zwischen ihnen ist eine Art bewaffneter Frieden entstanden.

Die Europäer im Allgemeinen und die Franzosen im Besonderen fangen gerade erst an, sich für den politischen Islam zu interessieren, den sie trotz der Arbeit von Louis Massignon aber nicht von der muslimischen Spiritualität unterscheiden können.

Die Türkei und die NATO

Zurück zur Türkei. Die USA haben sie in die NATO aufgenommen, weil sie an die Sowjetunion grenzte. Sie lernten den Wert ihrer Soldaten während des Koreakrieges schätzen, ohne die sie eine schändliche Niederlage erlitten hätten. Sie selbst organisierten eine Arbeitsmigration türkischer Bürger nach Westdeutschland, um ihre Bevölkerung im atlantischen Lager zu festigen. Da die kurdischen Türken die PKK mit Hilfe der Sowjets gegründet haben, konnten die US-Besatzungsbehörden in Deutschland sie direkt überwachen.

Später, als sich die Sowjetunion auflöste, ließen die Vereinigten Staaten ihren Druck nach. Die türkischen Arbeiter begannen, von Westdeutschland in andere Grenzländer, darunter Frankreich, zu wandern.

Bundeskanzlerin Angela Merkel demonstriert am Arm von Aiman Mazyek, Generalsekretär des Zentralrats der Muslime, gegen den Terrorismus. Diese Organisation, die von den im Exil lebenden Mitgliedern der syrischen Muslimbruderschaft unter der Leitung des Millî Görüş geleitet wird, bringt verschiedene Vereine zusammen, darunter die Atib (Union der türkisch-islamischen Kulturverbände in Europa); Ein Feigenblatt der Grauen Wölfe.

Während des Kalten Krieges hatten die Vereinigten Staaten das europäische Hauptquartier der Muslimbruderschaft in München und dann in Genf rund um Said Ramadan (Ehemann der Tochter von Hassan el-Banna und Vater von Tariq und Hanni Ramadan) eingerichtet. Nach jedem gescheiterten Staatsstreich im Nahen Osten ließ die NATO von Deutschland oder Frankreich politisches Asyl gewähren. So dass diese beiden Länder ihre Feinde historisch in ihrem eigenen Land aufgezogen haben. Charles Pasqua war der Erste, der sich dieser trügerischen Allianz widersetzte. Die damals von den französischen Renseignements généraux [Inlandgeheimdienst] angesammelten Akten wurden kürzlich von Jean-Loup Izambert zusammengestellt [3].

Bekir Altaş, Erdoğans Mann in Europa, kontrolliert die Diaspora von Köln aus, unter dem Schutz der NATO. An der Spitze des Millî-Görüş organisierte er die Angriffe auf die Armenier in Frankreich während des Berg-Karabach-Krieges und ließ die Charta des Laizismus scheitern.

Mit der von Recep Tayyip Erdoğan der Türkei aufgezwungenen islamistischen Wende, hat die Agentur für religiöse Güter (Diyanet) ihren Einfluss auf die Diaspora erheblich ausgebaut. Sie vervielfachte die Zahl der zur Verfügung gestellten Imame und stützte sich auf den Millî Görüş und in jüngerer Zeit auf die Grauen Wölfe (eine andere türkische Miliz, die ebenfalls der NATO verbunden ist, aber jetzt in Frankreich verboten ist [4]).

Erdoğan und die Anschläge von 2015 und 2016 in Paris und Brüssel

Die Untersuchungen der Anschläge in Paris-Saint Denis und Brüssel-Zaventem in den Jahren 2015 und 2016 wurden nicht als Aktionen von Einzelkämpfern durchgeführt. Nach Angaben der französischen und belgischen Ermittler handelte es sich um militärische Operationen. Die Frage ist also, welche Armee hat sie organisiert?

Die Ermittler zeigten, dass die beiden Gruppen sehr eng miteinander verbunden waren. Es handelt sich also um denselben Auftraggeber.

Vier Tage vor den Anschlägen in Brüssel-Zaventem hat Präsident Erdoğan der Europäischen Union im Allgemeinen und Belgien im Besonderen ausdrücklich mit einem Anschlag gedroht [5]. Am Tag nach diesem Blutbad verbarg die dem Präsidenten ergebene Presse ihre Freude nicht [6].

Es gibt daher kaum Zweifel daran, dass er die Attentate von Paris-Saint Denis gleichermaßen gewünscht hat, da Frankreich seine Verpflichtungen für die Türkei in Syrien verraten hat [7].

Foto der Videoüberwachung vom Flughafen Brüssel-Zaventem. Hier sind drei Mitglieder des Kommandos zu sehen, darunter der mysteriöse "Mann mit dem Hut", der bereits bei den Anschlägen in Paris anwesend war.

Wie immer, der einzige Dschihadist, der sowohl dem Pariser als auch dem Brüsseler Kommando angehörte (Mohammed Abrini, "der Mann mit dem Hut"), wurde als Informant des britischen Geheimdienstes identifiziert [8].

Habt Ihr gesagt "Finanzierung der Dschihadisten, die auf französischem Boden operieren"?

Übersetzung
Horst Frohlich
Korrekturlesen : Werner Leuthäusser

[1So wurde er vorgestellt, als die Umayyaden nach Damaskus kamen, noch bevor der Koran schriftlich festgehalten wurde.

[2Siehe: „Die Muslimbruderschaft als Mörder“, von Thierry Meyssan, Übersetzung Sabine, Voltaire Netzwerk, 12. Juli 2019.

[356— tome I : L’État français complice de groupes criminels, 56 — tome II : Mensonges et crimes d’État, IS édition (2015 et 2017).

[4Die Grauen Wölfe versuchen antiarmenische Pogrome in Frankreich“ und „Frankreich wird die türkischen Grauen Wölfe verbieten“, Übersetzung Horst Frohlich, Voltaire Netzwerk, 2. und 5. November 2020.

[5Erdoğan droht der Europäischen Union“, von Recep Tayyip Erdoğan, Übersetzung Horst Frohlich, Voltaire Netzwerk, 18. März 2016.

[6Türkei reklamiert Blutbad in Brüssel“, von Savvas Kalèndéridès, Übersetzung Ralf Hesse, Voltaire Netzwerk, 26. März 2016.

[7Der Beweggrund der Attentate von Paris und Brüssel“, von Thierry Meyssan, Übersetzung Sabine, Voltaire Netzwerk, 28. März 2016.

[8“First Isis supergrass helps UK terror police”, Tom Harper, The Times, June 26th, 2016. « Terror suspect dubbed ’the man in the hat’ after Paris and Brussels attacks becomes British police’s first ISIS Supergrass », Anthony Joseph, Daily Mail, June 26th, 2016.