Es scheint, dass die jüngsten Entwicklungen in Europa und insbesondere der Druck des Sezessionismus (Katalonien) eine Glocke läuten beziehungsweise an bestimmte Ereignisse erinnern. Im folgenden sollen die Rollen der EU, der USA und Deutschlands dabei beleuchtet werden. Inwieweit orientierten sie sich in der Kosovo-Krise an den Prinzipien des Völkerrechts und der Demokratie? Wie sehr schätzten sie die Berichte ihrer (teuren) Missionen im Kosovo und Metohija (KDOM, KVM, ECMM), die die Realitäten vor Ort darstellten? Inwieweit haben sie das Recht auf Selbstbestimmung und Menschenrechte verteidigt und inwiefern den Separatismus für geopolitische Interessen missbraucht? Da sich Strategien nur langsam entwickeln, können Erinnerungen an die Vergangenheit zu einem besseren Verständnis der Interessen und der Rolle der EU bei den laufenden Verhandlungen mit dem Kosovo in Brüssel beitragen.

Über einen längeren Zeitraum haben die führenden Mitglieder sowohl der Nato als auch der EU die terroristische UÇK im Kosovo und Metohija unterstützt. Als Alliierte starteten sie 1999 eine bewaffnete Aggression gegen Serbien (Bundesrepublik Jugoslawien), die nach den gleichen Grundsätzen des Völkerrechts, die heutzutage von den EU-Beamten eifrig in Anspruch genommen werden, einem Verbrechen gegen Frieden und Menschlichkeit gleichkäme. Zusammenfassend gesagt, hatten die Länder und Zusammenschlüsse, deren Sprecher bis heute schwören, dass sie immer die gleichen Prinzipien und regelbasierte ­Politik hochhalten, 1999 den stärksten Schlag gegen die globale Rechtsordnung und gegen die Vereinten Nationen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ausgeführt.

Ausbreitung von Sezessionen und Ausweitung des islamischen Extremismus

Die Politik der Regierungen dieser Länder und deren Zusammenschlüsse während der jugoslawischen und der Kosovo-Krise hatte die Ausbreitung von Sezessionen, die Ausweitung des islamischen Extremismus, des Wahhabismus und des Terrorismus in Europa und im Rest der Welt zur Folge. Indem sie die in der Helsinki-Schlussakte (KSZE) verankerten Grundsätze, die Charta der Vereinten Nationen und internationale Übereinkommen und Verträge missachteten und verletzten, verursachten sie eine dauerhafte Instabilität auf dem Balkan als dem am stärksten gefährdeten Teil Europas.

Gegenwärtig üben sie Druck auf Serbien aus, das sie zerstört, getäuscht und gedemütigt haben, indem sie die gewaltsame Entnahme des Kosovo aus seinem Staatsgebiet in Form einer konstruierten einseitigen und illegalen Abspaltung anerkannt und von Serbien verlangt haben, alles zu löschen und zu vergessen, dies «im Interesse seiner europäischen Zukunft». Welche Art von Zukunft könnte auf einer solchen Grundlage aufgebaut werden?

Der Geist des Separatismus und des Terrorismus, den die führenden Staaten der Nato und der EU 1998/99 im Kosovo und Metohija wegen der geopolitischen Ziele der USA und einiger europäischer Mächte wie zum Beispiel Deutschland und Grossbritannien aus der Flasche gelassen haben, verbreitet sich immer weiter über Europa. Währenddessen glauben EU und Nato, dass sie ihn in die Flasche zurückbringen können und dass sie die Namen klären und ihre verbeulte Einheit wiederbeleben können, indem sie erneut Serbien und dessen Interessen opfern. Die wahre Tragödie für Europa ist die Argumentation, dass Wahrheit nur das ist, was die EU-Kommissare und -Sprecher zur Wahrheit erklären. Die Dominanz solcher Argumente verhindert ein echtes Verstehen des historischen Sogs, der den Alten Kontinent verschlingt!

Die strategischen Gründe für den Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien

«Der Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien sei geführt worden, um eine Fehlentscheidung von General Eisenhower aus dem Zweiten Weltkrieg zu revidieren. Eine Stationierung von US-Soldaten habe aus strategischen Gründen dort nachgeholt werden müssen.» So zitiert W. Wimmer, ehemaliger Staatssekretär im deutschen Verteidigungsministerium, in seinem Bericht vom 2. Mai 2000 an Bundeskanzler Gerhard Schröder die amerikanischen Vertreter auf einer Nato-Konferenz Ende April 2000 in Bratislava.

Der erste Punkt in diesem Bericht ist eine explizite Forderung der USA an ihre verbündeten Nato-Mitglieder, «eine möglichst baldige völkerrechtliche Anerkennung eines unabhängigen Staates Kosovo vorzunehmen», während der zehnte und letzte Punkt lautet: «In jedem Prozess sei dem Selbstbestimmungsrecht der Vorrang vor allen anderen Bestimmungen oder Regeln des Völkerrechts zu geben.» Sollte man sich da über das gegenwärtige Referendum über die Sezession von Katalonien wundern?

Wimmers Bericht hält ausserdem fest, dass die auf der Pressekonferenz von Bratislava erklärte Position darin besteht, der Angriff der Nato auf Jugoslawien ohne UN-Vollmacht von 1999 «sei […] ein Präzedenzfall, auf den sich jeder jederzeit berufen könne und auch werde». Das lässt einen sehr an der Behauptung einer grundsätzlichen und regelbasierten Politik zweifeln, wenn die unter Verletzung der UN-Charta durchgeführte Aggression als Präzedenzfall und die einseitige Abspaltung des Kosovo, die direkt aus einer solchen Aggression resultiert, als «einzigartiger Fall» erklärt wird.

Kein einziger Bericht bezog sich auf Völkermord oder ähnliche Straftaten

Am Vorabend der Nato-Aggression 1999 gegen Jugoslawien setzten sich zwei grosse internationale Missionen in der Provinz Kosovo und Metohija fest: eine unter der Schirmherrschaft der OSZE, bekannt als Kosovo Verification Mission (KVM), unter der Leitung des amerikanischen Diplomaten William Walker, und die andere unter der Schirmherrschaft der Europäischen Gemeinschaft als EU-Überwachungsmission (ECMM) unter der Leitung des deutschen Diplomaten Dietmar Hartwig. Letzterer brachte die oft wiederholte Einschätzung des Leiters der KVM und seiner Entourage zum Ausdruck: «Es gibt keine zu hohen Kosten, um die Nato im Kosovo einzusetzen. Alle Kosten sind akzeptabel.»

Nachdem die albanische Führung im Kosovo 2006 eine einseitige illegale Sezession erklärt hatte, schickte Dietmar Hartwig 2007 vier Briefe an die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, in denen er sie drängte, Deutschland solle eine solche einseitige Handlung nicht anerkennen. In seinem Brief vom 26. Oktober 2007 an Bundeskanzlerin Merkel sagt Hartwig unter anderem:

«In keinem einzigen Bericht [der ECMM] aus der Zeit zwischen Ende November 1998 und der Evakuierung [von ECMM, KVM] unmittelbar vor Kriegsausbruch [1999], wurden grössere oder gezielte Verbrechen von Serben an Albanern gemeldet, es wurde in keinem einzigen Fall über Genozid oder genozidähnliche Vorkommnisse/Verbrechen berichtet. […] Hingegen wurde in den durch mich erstellten [ECMM-]Berichten auch immer wieder erwähnt, dass angesichts der ständig zunehmenden Angriffe der UÇK/KLA auf die serbische Exekutive deren Sicherheits- und Ordnungskräfte eine bemerkenswerte Zurückhaltung und Disziplin an den Tag legten. Es war das deutliche und immer wieder genannte Ziel der serbischen Administration, die Bestimmungen des Miloševic-Holbrooke-Abkommens [vom 13. Oktober 1998] so genau wie möglich zu befolgen, um der internationalen Gemeinschaft keinen Grund für eine Intervention zu liefern.
Wie mir bereits in der Übernahmephase des Regionalbüros Priština auch durch meine ‹Kollegen› von den anderen ‹Kosovo Diplomatic Oberserver Missions› (USA, Grossbritannien, Russland usw.) bestätigt wurde, bestanden schon in dieser Zeit erhebliche ‹Wahrnehmungsverschiebungen› zwischen dem, was diese KDOMs (und teilweise auch Botschaften) an ihre Regierungen/Hauptstädte meldeten, und dem, was dann von diesen an die Medien/die jeweilige Öffentlichkeit gegeben wurde.

Falsche Berichte sollten den Krieg vorbereiten

Diese Diskrepanz lässt sich letztlich wohl nur als Teil einer, von langer Hand betriebenen, Vorbereitung eines Krieges gegen den Kosovo/gegen Jugoslawien verstehen. Denn bis zu meinem Verlassen des Kosovo hat es nicht das gegeben, was besonders die Medien, aber nicht minder intensiv die Politik, unentwegt behaupteten. Mithin hat es auch bis zum 20. März [1999] keinen Anlass gegeben, militärisch zu intervenieren, und damit sind auch alle Folgemassnahmen der internationalen Gemeinschaft dort unrechtmässig.
Das kollektive Verhalten der EU-Mitgliedsländer vor und nach dem Ausbruch des Krieges gibt naturgemäss zu ernster Besorgnis Anlass, weil die Wahrheit auf der Strecke blieb und die Glaubwürdigkeit der Gemeinschaft Schaden nahm. Aber mit meinem Schreiben geht es mir ausschliess­lich um die Rolle der Bundesrepublik Deutschland bei der Teilnahme an diesem Krieg und dem politischen Bestreben, den Kosovo von Serbien abzuspalten. […]

Deutschland hat sich aktiv für eine Aufteilung Serbiens eingesetzt

Aus den tagespolitischen Nachrichten der letzten Monate wurde immer wieder deutlich, dass die Bundesrepublik Deutschland den amerikanischen Wunsch nach einer Unabhängigkeit nicht nur (unter-)stützt, sondern die Abtrennung von Serbien aktiv betreibt. Da nach unserem Grundgesetz der Bundeskanzler bzw. in Ihrem Fall die Bundeskanzlerin die Richtlinien der Politik bestimmt, sind Sie auch dafür verantwortlich zu machen. Besonders Ihr Aussenminister, der als Kanzleramtsminister unter Ihrem Vorgänger gewiss genau wusste, was im Kosovo tatsächlich geschah, und der heute Ihre und Ihre politischen Vorgaben verfolgt, tritt unentwegt für die Verselbständigung/‹Un­abhängigkeit des Kosovo› und damit für die Abtrennung des Kosovo von Serbien ein. Weisen Sie ihn an, sich für eine völkerrechtskonforme und korrekte Kosovo-Lösung einzusetzen und gehen Sie innen- und aussenpolitisch mit gutem Beispiel voran. Nur die Beachtung geltenden Rechts durch alle Staaten kann Grundlage für ein friedliches Zusammenleben aller Völker sein. […]
Wird der Kosovo selbständig, wird den Serben der jederzeit ungehinderte Zugang zu den Gedenkstätten dieses Krieges verwehrt, bleibt der Kosovo ein Unruheherd. […]

«Ein gefährliches Zeichen für andere ethnische Gruppen»

Tragen Sie Ihren Teil dazu bei, dass eine Kosovo-Lösung auf der Grundlage der seinerzeitigen UN-Resolution [1244] erreicht wird, nach der der Kosovo serbisches Territorium bleibt. Die durch die USA gewollte und auch durch Sie betriebene Abtrennung von Serbien und die volle Unabhängigkeit des Kosovo bzw. der Kosovo-Albaner sind völkerrechtswidrig, ­politisch unklug und zudem unverantortlich teuer […].

Zudem setzt eine Abtrennung des Kosovo von Serbien auf Grund ethnischer Entwicklungen ein gefährliches Zeichen für andere ethnische Gruppen in anderen (auch EU-)Ländern, die – dann mit Recht – eine ‹Kosovo-Lösung› auch für sich beanspruchen könnten»

schliesst Dietmar Hartwig seinen Brief an Kanzlerin Merkel.

Genug gesagt über die «humanitäre Intervention» und die Sorge um den Schutz der Rechte der albanischen Bevölkerung als Kennzeichen für die «Einzigartigkeit des Kosovo-Falls». Die amerikanische Militärbasis «Bondsteel» in der Nähe der Stadt Uroševac gehört sicherlich vollkommen zufällig zu den grössten US-Militärstützpunkten ausserhalb der USA. Vielleicht bestätigt ihre Besorgnis darüber, dass sie vom serbisch-russischen humanitären Zentrum in Niš ausspioniert werden könnten, dass das «Bondsteel»-Mandat strikt lokal, humanitär und nur für kurze Zeit ist.

USA, EU und Nato verhindern Umsetzung der Sicherheitsrats-Resolution 1244

Es waren die USA, die EU und die Nato, nicht Serbien, die den Konflikt nach der bewaffneten Aggression von 1999 einfroren. Sie hielten ihn in den letzten 18 Jahren dadurch eingefroren, dass sie die Sicherheitsrats-Resolution 1244 nicht vollständig umsetzten. Sie zwangen Serbien, alle Verpflichtungen zu erfüllen, indem sie auf dem rechtlich verbindlichen Charakter der Resolution bestanden, während sie sich selbst und die Albaner von jeglicher darin festgelegten Verpflichtung befreiten. Sie sind sich darüber im klaren, dass die vollständige Umsetzung der Resolution 1244 des UN-Sicherheitsrates der Erhaltung der Integrität Serbiens gleichkommt, was sie gerade nicht wollen, weil sich dies gegen ihr geopolitisches Konzept der Expansion nach Osten richtet. Gerade jetzt, wo der Westen einen Übergang durchmacht, nach dem er nicht mehr so mächtig sein könnte, wie er in der unipolaren Weltordnung war.
Gegenwärtig fordert der Westen, dass Serbien den «Unabhängigkeitsprozess» des Kosovo «auftaut». Wie? Indem er Serbien dazu nötigt, eine «rechtsverbindliche Vereinbarung» mit Priština zu unterzeichnen, um eine illegale einseitige Abspaltung anzuerkennen, die illegale Aggression von 1999 zu legalisieren, die Folgen gewaltsamer ethnischer Säuberungen von über 250 000 Serben aus dem Kosovo und Metohija zu akzeptieren und im wesentlichen die Verantwortung für all das zu übernehmen.

Quelle
Zeit Fragen (Schweiz)