Achtung: der Teil des Artikels, der von dem Staatsstreich vom 15. Juli spricht, wurde durch spätere Nachrichten ungültig gemacht. Dazu lese man « À la recherche du bouc émissaire », von Thierry Meyssan, Réseau Voltaire, 20 octobre 2016. (auch auf Deutsch)

Während des Staatsstreichs wurden mehrere Soldaten von des Islamisten der AKP enthauptet und ihre Köpfe in den Bosporus geworfen. Hier schlägt ein Islamist Soldaten, die gefangen genommen wurden, mit der Peitsche. Die Säuberung der säkularen Armee erfolgte ohne jeden Zusammenhang zwischen den Soldaten, die in den Putschversuch verwickelt waren, und denen, die bestraft wurden.

Im Lauf der letzten drei Monate gab es viele Fehlinterpretationen der Entwicklung in der Türkei, insbesondere zum Rücktritt des Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu (22. Mai) und zum Putschversuch des Militärs (15. Juli).

Der falsche Staatsstreich

Durchforsten wir zunächst die Absurditäten in Bezug auf den Staatsstreich. Alle Autoren stimmen in zwei Punkten überein:
 Der Staatsstreich wurde durch die Vereinigten Staaten von der Nato-Basis in Incirlik aus organisiert, wobei er sich auf die Luftwaffe stützte, die durch den multinationalen Konzern Lockheed Martin gesteuert wird.
 Er war zum Scheitern konzipiert, wie das Fehlen von Initiativen gegen sämtliche Führungspersonen des Regimes und seiner Partei sowie gegen das strategische Machtzentrum, den Präsidenten-Palast, beweist. Außerdem steckten einige Putschisten mit Präsident Erdoğan unter einer Decke, da zwei Flugzeuge der Rebellen den Präsidenten bei seiner Rückkehr nach Istanbul begleiteten.

Folglich sind nur zwei Interpretationen möglich:
 Entweder richteten die Vereinigten Staaten eine Warnung an Präsident Erdoğan, um ihn fügsamer zu machen. Sie würden also auflaufen.
 Oder die Vereinigten Staaten und Präsident Erdoğan haben den Staatsstreich zusammen abgesprochen, um das Land von jeder Opposition zu säubern.

Schließlich muss festgestellt werden, dass trotz dem Anschein und den offiziellen Erklärungen diese Säuberung im gemeinsamen Interesse der Vereinigten Staaten und des Präsidenten Erdoğan ist.

Tatsächlich ist die Türkei heute der Pate der Muslimbruderschaft weltweit und ihres bewaffneten Arms, das heißt des internationalen Dschihadismus. In dieser Stellung wird sie weiterhin die Fäden der „syrischen Rebellen“ wie auch von Daesch auf Rechnung Washingtons in der Hand halten. Dummerweise ist diese Position unvereinbar mit ihrer Verbindung zur Nato.

Zunächst dachte Washington daran, das Problem durch Auswechseln des türkischen Präsidenten zu lösen. Die CIA hat deshalb die Umwandlung der HDP (Partei der Minderheiten, hauptsächlich kurdisch) unterstützt, aber diese hat die Wahlen im November 2015, die durch die AKP grob manipuliert wurden, verloren [1]. Washington hat also die Unterstützung Erdoğans akzeptiert, aber beschlossen, die Türkei aus der Nato abzuziehen.

Das Atlantikbündnis war nach dem Zweiten Weltkrieg auf Wunsch der westeuropäischen besitzenden Eliten geschaffen worden, die Angst hatten, auf mehr oder minder demokratische Weise, nach dem Muster des „Prager Putsches“, von den Kommunisten weggefegt zu werden. Während des Kalten Krieges verwandelte es sich in eine Kriegsmaschine gegen die Sowjetunion. Es brauchte also sehr zahlenstarke Heere, weshalb es 1952 die Türkei eintreten ließ. Diese erwies sich als unentbehrlich im Koreakrieg, dann während der Kubakrise. Indessen wurde das Bündnis nach dem Verschwinden der Sowjetunion nicht aufgelöst, sondern 1999 in die Polizei der unipolaren Welt verwandelt (Neues Strategisches Konzept). Seither wurden alle Heere der Nato qualitativ auf diese neue Funktion umgestellt: Ende der Wehrpflicht und Einkauf von technologisch hochwertiger Ausrüstung. Infolgedessen ist die Zugehörigkeit der Türkei zur Nato, die 1952 notwendig war, heute nutzlos geworden.

Obwohl die Allianz alle zwei Jahre ein Gipfeltreffen ihrer Staatschefs hält, hat Washington ein außerordentliches für den Juli 2017 in Brüssel einberufen. Man wird dann die Türkei ausschließen, so dass Washington jede Verantwortlichkeit für den internationalen Terrorismus leugnen kann.

Nebenbei ist zu beachten, dass die AKP regelmäßig die Streitkräfte allgemein beschuldigt, mit den Vereinigten Staaten zusammenzuarbeiten. So hat sie einen Spielfilm über Gladio, den Geheimdienst von CIA/Nato produziert und mehr als 200 höheren Offizieren die Verschwörung gegen den Staat vorgeworfen (Ergenekon-Prozess) [2]. Nun wurden aber diese Urteile aufgehoben und die Offiziere freigelassen. In Wahrheit hatten sie versucht, Verbindungen zu den chinesischen Streitkräften zu knüpfen, also sich vom Pentagon zu entfernen. Mit Sicherheit wird ihnen heute zu Unrecht vorgeworfen, Putschisten zu sein.

Der einzige Widerspruch, der sich gegen die Deutung des heimlichen Einverständnisses zwischen Washington und Erdoğan vorbringen lässt, ist die Zukunft der Hizmet, der Bewegung von Fehtullah Gülen. Sie ist unverzichtbar für die CIA in Afrika, im Balkan und in Zentralasien, verliert nun aber ihre türkische Finanzierung. In den nächsten Monaten werden wir sehen, welche Alternative Washington vorgesehen hat.

Zu betonen ist nebenbei, dass Gülen keine Verbindung zu diesem Staatsstreich hat, denn er gehört zu einer anderen Islam-Schule, während die Putschisten Kemalisten sind.

Die Entlassung des Ministerpräsidenten

Kommen wir nun zum Rücktritt von Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu, der dem versuchten Staatsstreich um zwei Monate voranging.

Nachdem er in Malaysia Politikwissenschaften unterrichtet hatte, veröffentlichte er 2001 seine Stratejik Derinlik: Türkiye’nin Uluslararası Konumu (Strategische Tiefe). Gestützt auf die Thesen von Dimitri Kitsikis propagiert er einen Neo-Ottomanismus, welcher der Türkei die regionale Stärke zurückgibt. Ihm zufolge muss sich die Gründung eines neuen türkisch-mongolischen Reiches in zwei Abschnitten abspielen. Zunächst müssen wieder diplomatische Beziehungen mit den Nachbarn aufgenommen werden („null Problem mit den Nachbarn“), dann muss in den Nachbarstaaten der Islam gestärkt werden, um sie zu vereinigen. 2003 tritt Davutoğlu in das Kabinett von Ministerpräsident Erdoğan ein und wird bis 2009 sein diplomatischer Berater. In diesem Zeitraum setzt er den ersten Teil seines Programms um und schafft es tatsächlich, alle Nachbarschaftsprobleme zu lösen, die aus der osmanischen Periode herrühren (aber weder die armenische Frage, die auf die Jungtürken zurückgeht, noch die von Henry Kissinger geerbte Zypernfrage). Nachdem er 2009 zum Außenminister ernannt wurde, schließt er diese erste Phase ab, indem er den gemeinsamen Markt Syrien-Türkei-Iran aushandelt und geht dann zur zweiten Phase seines Projektes über. Nach dem Streit zwischen Erdoğan und Peres in Davos (Ende 2009) organisiert er die „Freiheits-Flottille“, um die Hamas zu unterstützen, und begibt sich in den direkten Konflikt mit Israel, das die Mavi Marmara entert, die unter türkischer Flagge fährt. Dann unterstützt er die Muslimbruderschaft in Libyen und nimmt am Umsturz der Dschamahirija (2011) teil. Schließlich unterstützt er noch die Muslimbrüder in Syrien, diesmal gegen die säkulare Republik.

Es bleibt festzustellen, dass diese Politik gescheitert ist und die Türkei in eine Sackgasse geführt hat. Während der zweiten Phase von Davutoğlus Projekt befand Ankara sich erneut in Konflikt mit allen seinen Nachbarn außer Aserbaidschan („null Nachbar ohne Problem“). Deshalb hat Präsident Erdoğan im vergangenen Mai entschieden, die Strategie zu ändern und Davutoğlu durch Binali Yıldırım zu ersetzen. Es geht nach wie vor darum, ein neues türkisch-mongolisches Reich zu schmieden, aber dieses Mal durch den Versuch, zuerst die Türkei zu einen, und dann das Modell auf die Nachbarn zu erweitern.

Binali Yıldırım dirigiert die Säuberung.

Yıldırım ist ein Pate der türkischen Mafia, der die Finanzierung der AKP während ihrer Gründung abgesichert hat. Er hat Korruptionsbeziehungen mit den meisten großen türkischen Unternehmen etabliert und führt heute Säuberungen gegen diejenigen durch, die sich ihm widersetzt haben.

Die neue türkische strategische Doktrin hat Ankara bereits dazu geführt, zu mehreren seiner Nachbarn wieder gute Beziehungen, zumindest kommerzielle, aufzubauen.

Ende Juni hat die Türkei in Rom ein Abkommen mit Israel unterzeichnet, durch das die diplomatischen Beziehungen wieder hergestellt werden. Der Handel mit dem Iran auf hohem Niveau hat intensive Wirtschaftsverbindungen trotz des Krieges in Syrien aufrechterhalten. Darüber hinaus haben sich hinter den Kulissen die Beratungen über die kurdische Frage vervielfacht. Schließlich hat Präsident Erdoğan seinem russischen Kollegen Entschuldigungen bezüglich des Suchoi-Abschusses präsentiert und in der letzten Woche die Handelsbeziehungen wieder aufgenommen.

Die kommende Entwicklung

Vier Fragen bleiben offen:

 Die Unterstützung für die Dschihadisten an der Golan-Grenze

Seit Ende 2014 haben sich die Blauhelme der UNDOF aus dem „Niemandsland“, das durch die Uno-Resolution 338 geschaffen wurde, zurückgezogen und wurden mit Unterstützung des Tsahal durch al-Qaida ersetzt. Ich habe die Existenz eines Vertrags zwischen Moskau und Washington aufgedeckt, der Tel-Aviv zur Beendigung der Unterstützung für diese Terroristen und zur Akzeptanz einer Rückkehr der Uno zwingen soll [3]. Man könnte ins Auge fassen, dass die Türkei die Nachfolge antritt, aber da es keinen Kommunikationskanal von der Türkei in den Süden Syriens gibt, ist dies unmöglich. Im Übrigen haben die Briten den Namenswechsel von al-Qaida in Syrien arrangiert („rebranding“), wahrscheinlich um zu versuchen, diese Situation gebrauchsfähig zu erhalten.

 Die Unterstützung für die Dschihadisten im Osten Aleppos

Die Intervention von Jeffrey Feltman, um die humanitären Korridore unter die Kontrolle der Uno zu bringen, beweist, dass die Belagerung durch die Syrische Arabische Armee wirkungsvoll ist – auch wenn die westliche Propaganda vorgibt, sie sei durchbrochen. Nach der Schließung des Kommunikationsweges von der Grenze an wird die Türkei sich in Ost-Aleppo nur mit Unterstützung der Bevölkerung halten können. Sie dürfte sich also schnell zurückziehen.

 Die Unterstützung für die Dschihadisten in Raqqa und Mossul

Nur die Bevölkerung von al-Anbar (Irak) ist ausschließlich sunnitisch und den Dschihadisten zugeneigt. Die Türkei müsste also Daesch in Raqqa bekämpfen, aber in Mossul weiterhin unterstützen. Definitiv ist die Unterstützung eines islamischen Emirats in al-Anbar für Washington der einzige Weg, die „Seidenstraße“ abzuschneiden und gleichzeitig vorzugeben, dass es den Frieden in Syrien befürwortet.

 Die kurdische Frage

Das Vorhaben der AKP, von Frankreich unterstützt und von Washington gebilligt, ist die Schaffung eines kurdischen Staates außerhalb der Türkei und die Abschiebung der Kurden der PKK in diesen Staat. Im Laufe der letzten Jahre ist vereinbart worden, dieses „Kurdistan“ im Norden Syriens in einem arabisch-christlichen Gebiet zu gründen, nachdem es von seinen historischen Einwohnern entvölkert wurde. Dieses Projekt wird von bestimmten PKK-Mitgliedern unterstützt, die auf einen eigenen Staat, egal wo, hoffen und sich keine Gedanken darum machen, in eine genauso unrechtmäßige Situation zu geraten wie Israel in Palästina nach der Nakba. In den nächsten Monaten werden die Kurden also ihre Haltung klären müssen. Bis jetzt waren sie jedermanns Verbündete gegen Daesch, was ihnen ermöglichte, die arabische Stadt Manbij zu befreien und sie als Keimzelle ihres neuen Staates zu betrachten. Von nun an werden sie sich wahrscheinlich in Proamerikaner und Prorussen aufteilen. Es wird also möglich sein, die Machbarkeit eines „Kurdistan“ auf nichtkurdischem Grund und Boden einzuschätzen.

Letzten Endes, wenn alle diese Fragen gelöst sind und die Diktatur sich fest eingerichtet hat, dann wird die Türkei erneut versuchen, ihr Modell auf die Nachbarn auszudehnen, wahrscheinlich zuerst auf jene, die vor ihren Methoden feige die Augen verschließen.

Übersetzung
Sabine

[1Schwindel bei den türkischen Parlamentswahlen“, Übersetzung Horst Frohlich, Voltaire Netzwerk, 5. November 2015.

[2Der gerichtliche Staatsstreich der AKP“, von Thierry Meyssan, Übersetzung Horst Frohlich, Voltaire Netzwerk, 20. August 2013.

[3Der Sicherheitsrat schickt sich an Israel den Bruch mit al-Kaida aufzuerlegen“, von Thierry Meyssan, Übersetzung Ralf Hesse, Voltaire Netzwerk, 3. Juli 2016.