Die griechische Erfahrung ist ein Schulbeispiel. Die Vereinigten Staaten, die ihre Politik gleichzeitig Brüssel, Berlin und Athen auferlegt haben, konnten dort ausprobieren, wie eine starke Oppositionsbewegung des Volkes durch Anwendung des „Doppeldenkens“ gelähmt werden kann. Jetzt muss nur noch das Gefühl von Machtlosigkeit verstärkt werden, das der Rest Europas bekommen hat, um die Angliederung der Eurozone an die Dollarzone in einem einzigen großen transatlantischen Markt möglich zu machen.
Trotz der Umfragen, die ihn Seite an Seite mit der „Neuen Demokratie“ platzierten, hat Alexis Tsipras die zweiten Parlamentswahlen mit 35,46 Prozent der Stimmen gegenüber 28,10 Prozent der oben genannten Partei gewonnen. In der Folge hat er beschlossen, durch das Bündnis mit der rechten souveränistischen Partei der „Unabhängigen Griechen“ die alte Regierungsmehrheit fortzuführen. Nach Meinung mancher Beobachter wie Romaric Godin „wissen die Griechen, wie man den, der gekämpft hat, belohnt, auch wenn er am Ende verloren hat“ [1]. Ihm zufolge hat „dieser Kampfgeist“ dem griechischen Volk die Würde wiedergegeben.
Zunächst ist anzumerken, dass die Unterstützung weit davon entfernt ist, massiv zu sein, wenn man die Höhe der Stimmenthaltungen von 45 Prozent in Betracht zieht, also zehn Punkte mehr als bei den Wahlen im Januar. Wenn man die leeren und ungültigen Stimmzettel (2,5 Prozent der abgegebenen Stimmen gegenüber 0,5 Prozent im Januar) hinzuzählt, ist es fast die Hälfte der Wähler, die ihre Missbilligung der Regierungspolitik ausdrückt. Die Enthaltung, der leere Stimmzettel ebenso wie die Unfähigkeit der Syriza-Dissidenten der „Volkseinheit“, eine politische Kraft zu bilden, die von den Wählern anerkannt wird, zeigt Misstrauen gegenüber der Gesamtheit der politischen Klasse und insbesondere die Existenz eines Gefühls von Machtlosigkeit. Warum wählen gehen, wenn das doch nichts nützt? Die totale Unterwerfung von Tsipras unter das Diktat der Gläubiger, nachdem er ein Referendum organisiert hatte, dass sich einer solchen Preisgabe massiv entgegenstellte, hat jeden Wunsch nach Widerstand zerstört. Ein Sieg der Rechten hätte eine Niederlage bedeutet, aber der Kampf gegen die Reformen hätte mit anderen Mitteln fortgesetzt werden können. Der Sieg von Tsipras hingegen stürzt die Menschen in die tiefste Demütigung, weil sie keine Worte mehr für den Kampf haben. Sie sind außerhalb der Sprache gestellt, in die Entdifferenzierung des Bildes. Die Niederlage wird zum „Sieg“ und die Zusammenarbeit mit dem Feind nennt sich „Widerstand“. Die Verkehrung ins Gegenteil auf der Ebene der Sprache geht einher mit der nachdrücklichen Umkehrung der politischen Handlungen. Die „Troika“ ist nicht mehr der Gegner der griechischen Regierung, sondern wird ihr Verbündeter in ihrem „Kampf gegen die Oligarchie und die Steuerhinterziehung“. Die Reformmaßnahmen der griechischen Regierung sollen dank der Hilfe der europäischen Institutionen wirksamer sein, was sie zu bevorzugten Instrumenten des Kampfes gegen das Finanzkapital werden lässt.
Allerdings zeigt die Mehrheit, die Syriza erreicht hat, ihr relativer Sieg an den Urnen, trotz ihres paradoxen Charakters doch etwas Reales: den aktuellen Vorrang des Bildes vor den Tatsachen.
Ein Bild von Widerstand
So hat die Kapitulation nicht das Bild des Ministerpräsidenten in Frage gestellt. Er hat erklären können: „Man kann mir nicht vorwerfen, dass ich nicht gekämpft habe. Ich habe bis zu einem Punkt gekämpft wie sonst niemand“ [2]. Aus einer problematischen Konfrontation tritt man heraus, um die Rolle des Opfers einzunehmen. Die Ikonografie, die durch die Opferideologie geschaffen wird, verschmilzt zwei Aspekte, sie stellt sich gleichzeitig als Abbild des Helden, der mehr gekämpft hat als jeder andere, wie auch als Opfer dar, dass die Verträge „mit dem Revolver an der Schläfe“ unterzeichnen musste. So wird der radikalen Linken eine heilige Aura verliehen. Die Mutter von Alexis, Aristi Tsipras, 73 Jahre alt, erzählt dem wöchentlichen Boulevardblatt Parapolitika (Παραπολιτικά): „In letzter Zeit isst Alexis nicht mehr, schläft nicht mehr, aber er hat keine Wahl, er hat eine Verpflichtung gegenüber dem Volk, das ihm vertraut“ [3]. Seine Ehefrau fügt hinzu: „Ich sehe ihn nur selten, er geht vom Flugplatz zum Parlament. Er hat keine Zeit, seine eigenen Kinder zu besuchen, wie könnte er mich besuchen?“ Alles reduziert sich auf das Leiden der „guten Seele“, eines getreuen, aber verwundeten Politikers. Der Vorrang des Bildes beseitigt jede Trennung zwischen dem Bürger und der Macht. Kritik wird unter diesen Umständen Ketzerei, denn sie leugnet die aufopfernde Liebe des Führers.
Die Problematik der Konfrontation verschiebt sich vom objektiven Gegensatz zwischen den sozialen Kräften zum inneren Konflikt des Ministerpräsidenten, zu seinem Seelenzustand. Die Stofflichkeit ihrer Kämpfe ist den Menschen genommen zugunsten der Bewahrung des Bildes von Tsipras. Das Wahlergebnis bringt einen Ministerpräsidenten zurück an seinen Platz, der seine Wahlversprechen geleugnet und das Ergebnis eines Referendums, das er selbst organisiert hatte, ins Gegenteil verkehrt hat. Sein Erfolg bezeugt die Wirksamkeit eines Verfahrens, das von der Bevölkerung die Aussetzung ihrer Interessenvertretung verlangt, damit das Bild des Widerstands ihres Führers unbeschädigt bleibt.
Der Vorrang des Bildes
Das Bild stellt das Unsichtbare zur Schau: Tsipras’ Kampf ohnegleichen. Es enthüllt, was durch die Tatsachen versteckt ist, durch seine Kapitulation vor der EU. Das Wahlergebnis macht den Blickwinkel, den Tsipras auf sich selbst hat, objektiv und setzt ihn an die Stelle des Wirklichen. Das Bild wird wirklicher als die Wirklichkeit und entkommt dem Widerspruch. Die Verschmelzung, die es zwischen den Bürgern und ihrem Führer herbeiführt, bewirkt dass sein „Widerstand“ nicht Gegenstand von Diskussionen oder Kritik ist.
Für die griechische Regierung stand das Bild immer im Zentrum. So wurde auch der Namenswechsel ihrer Gesprächspartner, die Mutation der „Troika“ zu „Institutionen“, als Sieg dargestellt.
Nun hat sich die griechische Regierung den Forderungen der Gläubiger total gefügt und alle Verschärfungen derselben akzeptiert. Die Forderungen der „Troika“ sind übrigens nicht zu Ende. Die neue wirtschaftliche Demütigung des Landes wird den „Institutionen“ erlauben, weitere Beschränkungen und Privatisierungen zu fordern. Die Dringlichkeit wird zur Folge haben, dass die letzteren sich nur zu Dumpingpreisen machen lassen. Nach der Kapitulation wird die Regierung nicht darum herumkommen, sich an der Zerstückelung des Landes zu beteiligen. Allerdings wird wegen der Entdifferenzierung, die das Bild erzeugt, die Preisgabe als Kampf bezeichnet werden können.
Die Entdifferenzierung zwischen einer Sache und ihrem Gegenteil
Das Bild „ist die Sache und ist sie gleichzeitig doch nicht“, es schafft ein Gleichgewicht zwischen dem, was ist, und dem, was nicht ist. Die Kapitulation kann unter diesen Umständen als Sieg dargestellt werden. So hat Tsipras, um die Abgeordneten zur Beschleunigung der Umsetzung des Vertrags anzuspornen, der mit den europäischen „Institutionen“ unterzeichnet wurde, vor dem griechischen Parlament erklärt: „Es ist entscheidend, keinen Millimeter an Boden zu verlieren von dem, was wir durch die Unterzeichnung des Abkommens erreicht haben“ [4]. Dieser Entdifferenzierungsprozess zwischen einer Sache und ihrem Gegenteil ist eine Konstante in der Politik dieser Regierung. Die Bürger wurden durch ihren Ministerpräsidenten aufgerufen, sich durch ein Referendum gegen die Vorschläge der EU zu entscheiden, die dann von 61 Prozent der Wähler abgelehnt wurden. In der Folge akzeptierte Tsipras einen Vertrag, der noch ungünstiger für die griechische Bevölkerung war. Mehr noch, während er sich dem Diktat der EU unterwarf, erklärte er: „Ich glaube nicht an diesen Vertrag. Es ist für Griechenland und für Europa ein schlechter Vertrag, aber ich habe ihn unterzeichnen müssen, um eine Katastrophe zu verhindern“ [5].
Doppeldenk
Panos Kammenos, der Präsident der Unabhängigen Griechen – der nationalistischen Mitgliedspartei der Regierungskoalition – und Verteidigungsminister, erklärte ebenfalls, die Annahme des Vertrags vom 13. Juli sei eine „Kapitulation“, das Ergebnis von „Erpressung“ und ein wahrer „Staatsstreich“. Er fügte hinzu: „Griechenland kapituliert, aber es ergibt sich nicht“ [6] und forderte die Abgeordneten der Mehrheit auf, für den Vertrag zu stimmen.
Tsipras und Kammenos entwickeln hier ein Verfahren der Doppelzüngigkeit („Doppeldenk“), das darin besteht, eine Aussage im selben Moment, in dem sie ausgesprochen wurde, durch Aufrechterhaltung von dem, was man vorher zu verstehen gegeben hatte, ungültig zu machen. So müssen der Abgeordnete und der Bürger, an den diese Reden gerichtet sind, in der Lage sein, gegeneinander stehende Elemente zu akzeptieren, ohne den Widerspruch darin aufzuheben. Sie tragen also zwei Vorstellungen mit sich, die nicht miteinander vereinbar sind.
Eine Sache und ihr Gegenteil zur selben Zeit auszudrücken, erzeugt eine Bewusstseinsspaltung. Die Leugnung des Widerspruchs zwischen den beiden Behauptungen verhindert jede Vorstellung. Es ist nicht mehr möglich, die Wirklichkeit wahrzunehmen und zu beurteilen. In der Unfähigkeit, die emotionale Belastung auf Abstand zu halten, kann man die Wirklichkeit nicht mehr überprüfen, kann ihr nur noch unterworfen sein und sie nicht mehr überdenken und organisieren.
Ein Prinzip der Unterwerfung
Der Mensch hat also zwei Vorstellungen, die unvereinbar sind und ohne jede Verbindung miteinander. Das Leugnen des Widerspruchs zwischen diesen beiden Elementen unterdrückt jede Konfliktbereitschaft, denn es lässt im Ich zwei entgegengesetzte Behauptungen bestehen, die sich nebeneinanderstellen, ohne sich gegenseitig zu beeinflussen. Dieser Prozess wird in der Psychoanalyse „Spaltung“ genannt. Sie verhindert jede Beurteilung und zieht eine Entdifferenzierung der Bestandteile der Wirklichkeit nach sich. Der Abbau der Fähigkeit zu symbolisieren verhindert das Entstehen eines Gedächtnisses und stellt sich damit der Bildung eines „Wir“ entgegen. Da wir in Monaden umwandeln, hat schon die Sprechweise angesichts der Allmacht der europäischen Institutionen die Wirkung einer Versteinerung und führt zur Psychose: Eine andere Handlungsweise ist nicht möglich.
George Orwell hat schon in 1984 das Instrument des „Doppeldenk“ beschrieben, das darin besteht, „zwei Meinungen beizubehalten, die sich gegenseitig aufheben, wenn man sie als widersprüchlich begreift und an beide glaubt“ [7]. Er hatte bereits „Prinzipien der Unterwerfung“ benannt, die dem Menschen jede Fähigkeit zum Widerstand nehmen und deren Zweck es ist, beim Subjekt „jede Erinnerung an die Existenz eines möglichen Widerstandsgedankens“ auszulöschen“ [8]. Die Politik, die darauf zielt, „den Widerstandsgedanken selbst“ auszulöschen, kann anschaulich gemacht werden durch die Befassung des griechischen Parlaments mit zwei Strafanträgen seitens des Generalstaatsanwalts des Obersten Gerichtshofs gegen den ehemaligen Finanzminister Yanis Varoufakis. Sie standen im Zusammenhang mit der Ausarbeitung eines – nicht ausgeführten – Plans, eine Parallelwährung zu schaffen. Der Courrier International führt aus: „Seine geheimen Überlegungen hätten weitreichende Folgen für den früheren Chef des griechischen Finanzministeriums haben können“ [9]. An Widerstand zu denken könnte eine strafbare Handlung werden.
Verstärkte Einbindung in die imperiale Struktur
Der Vorgang des „Doppeldenk“ ist nicht auf die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Regierung beschränkt, sondern auch in die Außenpolitik eingebunden. Der ehemalige Großrabbiner von Saloniki Rabbi Mordechai Frizis war beunruhigt über den Wahlsieg von Syriza. Er hatte hinzugefügt, dass „die Partei Syriza eine antizionistische Partei ist, die sich gegen Israel richtet“ [10]. Der angebliche Antizionismus Griechenlands hat sich kürzlich in der Unterzeichnung eines besonderen Militärabkommens mit Israel geäußert [11]. Dieses Dokument ist gleichlautend mit einem bereits vorhandenen zwischen dem letztgenannten Land und den Vereinigten Staaten. Andere Entsprechungen gibt es nicht. Es gewährleistet die rechtliche Immunität jedes Militärangehörigen während eines Einsatzes auf dem Territorium des anderen [12]. Das Abkommen legt fest, dass die israelische Marine künftig in zypriotischen Gewässern und im östlichen Mittelmeer eingreifen kann, um islamistische Angriffe gegen die griechischen Interessen und die des hebräischen Staates zu unterbinden. Eliteeinheiten des Tsahal könnten sich bei Bedarf auch auf den Gasinseln Zyperns ausbreiten oder auf den griechischen Militärbasen einrichten [13].
Die militärische Zusammenarbeit wurde für die griechische Regierung von Panagiotis Kammenos, dem Verteidigungsminister und Mitglied der Unabhängigen Griechen [ANEL] – der nationalistischen Partei in der Regierungsmehrheit – unterschrieben. Das Abkommen kann also nur mit der Zustimmung von Syriza Bestand haben. Diese Entscheidung wurde am 6. Juli 2015 bestätigt durch die Reise des von Syriza ernannten Außenministers Nikos Kotzias nach Jerusalem zu Gesprächen mit dem israelischen Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, „um die bilateralen Beziehungen zwischen den beiden Ländern zu stärken“.
Mehr noch, auf Verlangen der US-amerikanischen Behörden hat die Regierung Tsipras soeben den Überflug ihres Staatsgebiets durch russische Flugzeuge auf dem Weg nach Syrien verboten, und zwar kurz vor der Lieferung militärischer und nichtmilitärischer Hilfsgüter „bestimmt für den Kampf gegen die Söldner der Islamischen Emirats“.
Auf diese Weise ist die Ausdrucksweise Syrizas, die sich als Ergebnis eines Volkswillens darstellt, der „mit dem Imperialismus brechen“ will, begleitet von der verstärkten Einbindung in die imperiale Struktur. Das Handeln der Regierung muss das Parteiprogramm außer Acht lassen und dieses letztere muss sich von jeder konkreten Handlung zurückziehen. Der Antiimperialismus existiert nur in der Ausdrucksweise und kann sich parallel zu einer Politik entwickeln, die aus seinem Gegenteil entspringt. Wir sind außer Sprache; Rede und Wirklichkeit existieren unabhängig voneinander, die erste als einfache Litanei, als Geplapper, wie eine reine Freude also, die andere reduziert auf etwas Unsägliches, auf eine Wirklichkeit, die man nicht denken und deshalb auch nicht bekämpfen kann. Das was ausgesprochen wird, wird Wirklichkeit, beide verschmelzen miteinander. Auf diese Weise ist die Abweichung von dem, was die Regierungsmacht sagt, nicht mehr möglich.
Austerität als einzig mögliche Politik
Alexis Tsipras hat in der Wahlkampagne lang und breit wiederholt, dass er seine Verpflichtungen einhalten werde und dabei betont, dass er nicht einverstanden sei mit der Politik der Austerität. Die griechische Regierung hat sich verpflichtet, in den nächsten drei Jahren ungefähr 223 neue Maßnahmen umzusetzen als Gegenleistung für die Bereitstellung von 86 Milliarden Euro. Das dritte Memorandum stellt Griechenland unter strenge Aufsicht. Das Geld fließt nur tropfenweise und mittels bestimmter Reformen. Es lässt der Regierung keinerlei Haushaltsinitiative [14].
Aufgrund des Verbleibs an der Zwangskette des Euro hängt die Zukunft der Banken gleichermaßen vom guten Willen der Gläubiger ab, die allein grünes Licht geben dürfen für das in Höhe von 15 Milliarden Euro vorgesehene Programm zur Rekapitalisierung [15].
Alexis Tsipras hat sein Aufgeben vor dem Diktat der Troika mit dem vagen Versprechen einer künftigen Schuldenumstrukturierung gerechtfertigt. Der IWF erklärte mehrfach, dies sei eine Notwendigkeit und eine Bedingung für seine Teilnahme an der Finanzierung der Reformen. Infolge der Blockade seitens Berlins wird Griechenland indessen nur mit Zinssenkungen und einer Umschuldung rechnen können und bloß längere Laufzeiten erreichen. Deutschland wird es darum gehen, durch Einsetzen einer „progressiven“ Umstrukturierung den Druck auf die griechische Regierung aufrechtzuerhalten [16]. Diese Lesart wurde bestätigt durch ein Interview mit dem Direktor des Europäischen Stabilitätsmechanismus [ESM] Klaus Regling in der Financial Times vom 1. Oktober. Er warnte, dass trotz der Erklärungen von Tsipras Griechenland nicht auf eine umfassende Neuverhandlung seiner Schulden hoffen dürfe. Daher sei das Land dazu verdammt, eine fortwährende Rente an seine Gläubiger zu zahlen und die wachsende Massenverarmung zu erfahren.
Eine erneute Verarmung des Landes
Alexis Tsipras hat sich „auf Ehre und Gewissen“ verpflichtet, „seinem griechischen Volk“ zu dienen. Seine Ehre und sein Gewissen laufen allerdings Gefahr, im Verhältnis zu seinen Verpflichtungen gegenüber den Finanziers wenig Gewicht zu haben – eine Folge des Memorandums, das von den „Institutionen“ auferlegt und von der griechischen Regierung akzeptiert wurde. Es lässt keinerlei Raum für politische Initiative und reduziert die Souveränität des griechischen Staates auf ein Nichts.
Die auferlegten Reformen berühren alle Wirtschaftsbereiche, selbst die unmittelbarsten des alltäglichen Lebens. Das geht vom Milchpreis bis zum Datum der Eröffnung der Schlussverkäufe, über die Sonntagsarbeit – erlaubt oder nicht –, den Anstieg der Gehälter im privaten und im öffentlichen Sektor und die Entschädigungszahlungen im Falle von Entlassungen, nicht zu vergessen den Verkauf von Medikamenten in den Supermärkten, die Liberalisierung der geschlossenen Berufszweige und die Privatisierungen [17]. Die Gläubiger werden die auf drei Jahre bewilligten 86 Milliarden Darlehen nur tröpfchenweise freigeben im Anschluss an Bewertungen des Reformfortschritts und der Beachtung der Haushaltsziele durch Athen. Der Handlungsspielraum ist gleich null, seit Ende Oktober prasselt eine Serie von Abgaben und Steuern, gekoppelt mit der Kürzung der zusätzlichen Altersversorgung, auf die Griechen. Außerdem wird die Regierung das gesetzliche Rentenalter von 65 auf 67 anheben, die Möglichkeit der Frührente verringern, die Privatisierungen zum Abschluss bringen und die Energiemärkte liberalisieren.
Die dem Land auferlegte Sparpolitik hat schon – innerhalb von fünf Jahren – das BIP des Landes um 25 bis 30 Prozent gesenkt und noch mehr den Lebensstandard der großen Mehrheit der Bevölkerung. Die hohen Einkommen wurden dabei durch die getroffenen Maßnahmen kaum berührt. Das auferlegte Paket kann diese Tendenz nur noch verstärken: zunehmende Austerität und relativer Anstieg der Schulden. Die Griechen werden ihren Verpflichtungen nicht nachkommen können, was eine erneute Intervention von außen bedeutet. Der Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone könnte einfach nur hinausgeschoben sein. Mehr noch, Griechenland wird das Wesentliche, was ihm an nationaler Souveränität geblieben ist, verlieren, denn es muss sich an Mechanismen automatischer Ausgabenkürzungen anpassen und seine Reformen dem guten Willen der europäischen Institutionen unterordnen. Worin liegt die Katastrophe? In einer neuen rapiden und programmierten Schwächung des Landes oder im Austritt aus dem Euro, was die Zahlungsunfähigkeit erlauben würde und somit eine Möglichkeit, die wirtschaftlichen Aktivitäten wieder anzukurbeln?
Griechenland: eine optische Illusion als Ziel
Der durch den deutschen Wirtschaftsminister Wolfgang Schäuble festgelegte Plan hat nicht vorrangig Griechenland im Visier, sondern zielt darauf ab, über Griechenland Länder mit einem bedeutenden Haushaltsdefizit wie Italien und Frankreich zu erreichen, um das, was von ihren Haushaltsvorrechten geblieben ist, an die europäischen Institutionen, das heißt an Deutschland, zu übertragen [18]. Wenn die Auflösung der Eurozone in einem transatlantischen Ganzen bei den europäischen Institutionen „in der Pipeline“ ist, dann muss diese Zerstörung sich innerhalb der Ordnung vollziehen, in der Ordnung der „Sparpolitik“, der Ordnung der Deutschen, der dominanten europäischen Macht, um die herum die USA die Europäische Union errichtet haben und nun wieder zu demontieren im Begriff sind. Die verarmte Bevölkerung der EU kann nicht mehr als privilegierter Absatzmarkt für die deutschen Exporte dienen, also müssen sie sich zu den USA hinwenden.
Allerdings kann die Auflösung der Europäischen Union in dieser wirtschaftlichen und politischen Zone nur zum Preis eines deutlichen Rückgangs des Lebensstandards und der Freiheitsrechte in Europa zustande kommen. Die Bevölkerung der EU wird der Zerstörung ihrer Errungenschaften zustimmen müssen. Dass die griechische Erfahrung ein Gefühl der Machtlosigkeit gegenüber dieser zerstörerischen Politik schafft, enthüllt bereits die Totalität dessen, was auf dem Spiel steht.
Das Gefühl von Machtlosigkeit in der EU verbreiten
In seinen berühmten Vorträgen hat der Historiker Henri Guillemin uns an ein Zitat aus dem Jahr 1897 von Maurice Barrès, dem Vordenker der französischen nationalen Rechten erinnert: „Die erste Bedingung für den sozialen Frieden ist, dass die Armen das Gefühl ihrer Ohnmacht haben.“ Dieses Paradigma erhellt das Ergebnis der Verhandlungen, die Alexis Tsipras geführt hat, aber auch den Angriff auf die Bevölkerung der gesamten Europäischen Union.
Tsipras wollte glauben, dass das, was er als Tabu betrachtete, ein „Grexit“, dies auch für seine Gesprächspartner wäre, weil er die Gefahr der Zerschlagung der Eurozone darstellt. Aber für die Lenker der EU und vor allem für Deutschland ist die europäische Konstruktion dazu bestimmt, im zukünftigen großen transatlantischen Markt unterzugehen. Die Haltung Deutschlands hat – sowohl auf der Ebene des Kampfes gegen Steuerhinterziehung wie auch in Bezug auf seine wiederholte Unentschlossenheit gegenüber den Angriffen auf den Euro – die Geschäfte der US-amerikanischen Hedgefonds begünstigt [19]. Diese Absicht, die Eurozone in Schwierigkeiten zu bringen, wird bestätigt durch die hartnäckige Verweigerung des Unvermeidlichen, der Umstrukturierung der griechischen Schulden. Die Verweigerung schafft eine permanente Instabilität in den meisten Mitgliedstaaten des Euro und stellt sie unter Bedrohung durch die Finanzmärkte. Diese Haltung ist schlüssig angesichts des besonderen Engagements dieses europäischen Staates für die Einrichtung einer Wirtschaftsunion mit den Vereinigten Staaten.
Den großen transatlantischen Markt vorbereiten
Die Kraftprobe zwischen den Institutionen der EU und Griechenland hat eine Tragweite, die die planmäßige Verarmung dieses Landes übersteigt. Sie betrifft die Zukunft der Europäischen Union selbst. Erinnern wir uns daran, dass die Integration der EU in den künftigen großen transatlantischen Markt gleichbedeutend ist mit einer deutlichen Senkung der Kaufkraft und mit der Zerstörung der Freiheitsrechte der europäischen Bürger. Die Gleichgültigkeit der Bevölkerung im Hinblick auf die inflationäre antiterroristische Gesetzgebung, durch die alle individuellen und öffentlichen Freiheiten unterdrückt werden, ist bis jetzt beruhigend für die europäischen und die nationalen Mächte. Zypern und Griechenland stellen zwei Laboratorien dar, die es den Lenkern der Europäischen Union gestatten, den Widerstand der Bevölkerung gegen massive Angriffe auf ihren Lebensstandard in der Praxis zu testen.
Die zypriotische Erfahrung hat uns bereits gezeigt, dass man ohne Schwierigkeit die Ersparnisse der Bürger beschlagnahmen kann. Man bedenke, dass 60 Prozent der Bestände der Bankkonten mit mehr als 100.000 Euro der größten Bank Zyperns, der Bank of Cyprus, beschlagnahmt wurden, um eine ausgeglichene Betriebsrechnung der Gesellschaft zu erreichen [20]. Diese Maßnahme wurde als Intervention gegen die Mafia und als Kampf gegen die internationale Spekulation dargestellt, aber durch den Ablauf der Ereignisse wieder aufgehoben. Ehe die angekündigte Maßnahme umgesetzt wurde, blieben die zypriotischen Geschäftsstellen geschlossen, während die Londoner und die russische Geschäftsstelle geöffnet waren, um der Mafia und den Besitzern großer Vermögen das Abheben ihrer Guthaben zu ermöglichen. Was die griechische Erfahrung betrifft, so lehrt sie, dass man auf dem Umweg über die Verschuldung ein Land systematisch ausbeuten und die große Masse der Bewohner ins Elend stürzen kann.
[1] «La Grèce entre en résistance», Romaric Godin, La Tribune, 20 septembre 2015.
[2] «Le vote des Grecs dit leur dégoût de la politique», Angélique Kourounis, La Libre Belgique, 22 septembre 2015,
[3] «Tsipras "ne mange plus, ne dort plus", s’inquiète sa mère», La Libre Belgique avec AFP, 18 juillet 2015.
[4] «Plan d’aide à la Grèce. Tsipras veut aller vite», Manon Malhère, Le Figaro, 25 septembre 2015.
[5] «Une large majorité des Grecs maintiennent leur confiance en Tsipras», Angélique Kourinis, La Libre Belgique, 15 juillet 2015.
[6] in «Grèce, les conséquences de la capitulation», Éric Toussaint, CADTM, 21 juillet 2015.
[7] 1984 (Première Partie, Chapitre III), George Orwell, Gallimard Folio 1980, p. 55.
[8] « Le Panoptique et 1984 : confrontation de deux figures d’asservissement », Christine Ragoucy, Psychanalyse 2010/2 (n° 18), Erès, p.85.
[9] «Grèce. Plan secret d’un “Grexit” : Varoufakis finira-t-il au tribunal ?», Carolin Lohrenz, Courrier International, 30 juillet 2015.
[10] «Syriza : les juifs grecs craignent pour leur avenir», Tribune juive, 19 janvier 2015.
[11] „Militärischer Pakt zwischen Griechenland und Israel“, von Manlio Dinucci, Übersetzung Horst Frohlich, Il Manifesto (Italien), Voltaire Netzwerk, 31. Juli 2015.
[12] Am 19. Juli 2015 stellte Israpresse dieses Abkommen vor: „Der Chef des israelischen Verteidigungsapparates und der griechische Minister für nationale Verteidigung haben ein Abkommen über den Status der Truppen geschlossen (Status of forces agreement oder SOFA), das heißt eine gegenseitige juristische Einigung, die es den bewaffneten Streitkräften Israels erlaubt, in Griechenland stationiert zu sein, und umgekehrt. Dies ist das erste SOFA, das Israel mit einem verbündeten Land außer den USA schließt.“
[13] «Grèce-Israël. Un type d’accord militaire sans précédent», Ali Abunimah, voir note 1 de la rédaction, Alencontre, 9 juillet 2015.
[14] «La Grèce s’apprête à détailler ses nouvelles mesures d’austérité», Adéa Guillot, Le Monde, 2 octobre 2015.
[15] « Grèce : pourquoi alexis Stipras veut être le bon élève de la troïka?», Romaric Godin, La Tribune, 5 octobre 2015.
[16] «Germany pushes staggered Greek debt relief», Mattew Karnitsching, Politico, October 2, 2015.
[17] «Grèce: les chantiers qui attendent Tsipras sont dantesques», Angélique Kourounis, La libre Belgique, 22 septembre 2015.
[18] «Varoufakis et le plan B», Jacques Sapir, RussEurope, 3 août 2015.
[19] « La crise de l’Euro bégaie », Jean-Claude Paye, Réseau Voltaire, 29 décembre 2010.
[20] «Ponction massive à Chypre sur les comptes de plus de 100 000 euros», La Tribune, 30 mars 2015.
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